Medizin 4.0: Wenn Patientendaten zur Handelsware werden

Tagung diskutiert ethische, politische und soziale Aspekte der Digitalisierung in der Medizin

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Bad Boll. Die Digitalisierung betrifft zunehmend auch den Bereich Gesundheit. Smart-Watches sammeln Gesundheitsdaten, Algorithmen helfen dabei, die beste Therapieoption zu finden, telemedizinische Beratung ersetzt den Arztbesuch. Das wirft grundlegende soziale, politische und ethische Fragen auf: Zeichnet sich ein Trend zum gläsernen Patienten ab? Wer schützt vor Datenmissbrauch? Wie verändert sich das Arzt-Patienten-Verhältnis? Droht mit der Digitalisierung die völlige Ökonomisierung des Gesundheitswesens? Welches Menschenbild bringt diese Entwicklung mit sich? Diese Fragen werden an diesem Samstag (23. September 2017) auf der Tagung „Medizin 4.0 – Digitalisierung in der Medizin“ mit Experten in der Evangelischen Akademie Bad Boll diskutiert.

Der Managing Director Digitale Gesellschaft e. V., Berlin, Alexander Sander, gab einen Überblick über „Wege in die digitale Zukunft - Medizin im Wandel“: „Die Speicherung und Auswertung von Gesundheitsdaten spielt für die Medizin eine zunehmend wichtigere Rolle. Man erhofft sich, Krankheiten besser vorhersagen und behandeln zu können.“ Etwa anhand von Suchanfragen, die bei Google gestellt werden, könne man erkennen, wann und an welchem Ort eine Grippewelle ausbrechen werde. Durch die Auswertung von Daten, die durch Fitnessarmbänder oder Ernährungsapps gesammelt werden, wolle man Menschen mit passenden Tipps zu einem gesünderen Lebensstil animieren. Sogar Krankenkassen interessierten sich für derartige Systeme und versuchten ihre Kunden mit Rabattprogrammen zu überzeugen, diese Dienste zu nutzen. „Doch der Schutz dieser intimsten Daten der Teilnehmenden ist nicht gewährleistet“, sagte Sander: „Die Daten liegen oft auf ausländischen Servern und was genau damit passiert ist nur schwer, wenn überhaupt, nachvollziehbar.“ Zugleich drohe eine Entsolidarisierung des Gesundheitssystems: „Wer nicht an der Datenspeicherung teilnimmt bekommt keine Rabatte und muss somit mehr für die Versicherung zahlen.“

Auch die Datensicherheit sei ein großes Problem. In der Vergangenheit seien Rezeptdaten von Patienten millionenfach verkauft worden und Angriffe auf die Computersysteme von Krankenhäusern seien keine Seltenheit. „Die intimsten Daten von Patienten werden zu einer alltäglichen Handelsware, oft ohne das Wissen der Betroffenen“, sagte Sander: „Der Schutz der personenbezogenen Daten hat eine ebenso wichtige Priorität wie der Schutz der Gesundheit. Daher braucht es eine überlegte und besonnene Entscheidung, wann und unter welchen Voraussetzungen die sensiblen Daten von Patienten genutzt werden können und wann nicht.“

Das Vorstandsmitglied der Bezirksärztekammer Nordwürttemberg, Ethikkomitee Klinikum Stuttgart, Dr. med. Udo Schuss, berichtete über die „Auswirkungen der Digitalisierung auf die medizinisch-pflegerische Arbeit“: „Intuition, soziale und emotionale Intelligenz und nichtlineares Denken sind nicht ersetzbar“, sagte er. Statisches Denken müsse vom heilkundigen Handeln getrennt werden. Während die Programme besser werden, würden die Menschen schwächeln. Da man im Netz nur das finde, was man suche, „braucht es eine originäre sozialwissenschaftliche Perspektive“, forderte Schuss.

„Big Data im Gesundheitswesen muss sich letztlich daran messen lassen, wie gut sie die Autonomie der Patienten und Bürger zu schützen vermag“, sagte der geschäftsführende Direktor des Instituts für Medizinmanagement und Gesundheitswissenschaften der Universität Bayreuth und ehemaliges Mitglied des deutschen Ethikrats, Prof. Dr. Dr. med. habil. Dr. phil Dr. theol. h.c. Eckhard Nagel. In seinen Beiträgen über die „Normative Implikation einer digitalen Medizin“ und  die „Anthropologie in der digitalen Welt“ betonte er, dass verhaltensbasierte Versicherungsmodelle nicht als Malussystem für Nicht-Teilnehmer genutzt werden dürften: „Eine starke Betonung der Eigenverantwortung – etwa durch verhaltensabhängige Tarife – kann dem solidarischen Charakter unseres Gesundheitssystems entgegenstehen.“ In dem Maße, in dem Bildung, sozialer Status, Einkommen etc. über Handlungsoptionen bestimmen oder strukturell das gesundheitsrelevante Verhalten beeinflussen, sei die persönliche Freiheit von Entscheidungen meist eingeschränkt. „Werden dann sozial Schwache für zu wenig gesundheitsförderliches Verhalten etwa durch höhere Tarife bestraft, dann kommt dies einer doppelten Benachteiligung gleich.“ Zudem sei der Gesundheitszustand nicht nur vom individuellen Verhalten abhängig, sondern werde durch viele andere Faktoren, wie etwa die genetische Disposition, beeinflusst. Nagel: „Dies wirft Fragen auf, die nichts mehr mit Technologie und großen Datenmengen zu tun haben, sondern direkt und unmittelbar einer Gerechtigkeitsdebatte zuzuordnen sind.“

Die Tagung fand in Kooperation mit der Bezirksärztekammer Nordwürttemberg statt. 

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