68er: Revolutionäres Treffen

Der Aufruhr war groß: Vor 50 Jahren lud die Evangelische Akademie Studentenführer Rudi Dutschke zu einer Tagung ein. Heute sind die Zeitzeugen stolz auf ihren Coup.

Bad Boll. Bad Boll. Es war für viele unerhört, was die Evangelische Akademie Bad Boll da am 11. Februar 1968 veranstaltete. Rudi Dutschke sollte sprechen, mitdiskutieren am Ende einer Tagung mit dem gewaltigen Titel „Novus ordo saeculorum oder Das Problem der Revolution in Deutschland“. Er, Wortführer der Studenten, Bürgerschreck, für die Bild-Zeitung eine Hassfigur, für die Kirche ein rotes Tuch. Und jetzt bot ihm eine christliche Institution ein Forum.

„Es hagelte Proteste“, erinnert sich der damalige Tagungsleiter, Pfarrer Klaus Reblin (86). Er war es, der Rudi Dutschke einlud – eigenmächtig, wie er dieses Wochenende bei einer Tagung 50 Jahre danach vergnügt erzählte. Mit eingeladen nach Bad Boll war eine, die die Turbulenzen um den Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) hautnah miterlebt hatte: Gretchen Dutschke-Klotz, Witwe des 1979 verstorbenen Studentenführers.

Reblin wollte 1968 Dutschke und den linken Tübinger Philosophen Ernst Bloch zu einem Gespräch zusammenbringen. Warum die beiden? „Es hätte wenig Sinn gehabt, Dutschke mit dem Bild-Verlagsleiter diskutieren zu lassen.“ Was dahinterstand: Die Evangelische Akademie hatte sich den Studenten zugewandt, die linke Ideen hatten und wütend waren über die Gewalt beim Schah-Besuch in Berlin, über den tödlichen Schuss auf ihren Kommilitonen Benno Ohnesorg.

„Wir haben viele Revolutionstagungen gemacht“, erzählt Reblin. Da ging's zur Sache: „Christlicher Glaube und revolutionäre Gewalt“. „Umwertung aller Werte“. Die Frage der außerparlamentarischen Opposition. Revolte. Revolution. Reblin fuhr zu den Studenten, las ihre Lektüre – auch „Thomas Müntzer als Theologe der Revolution“ von Bloch.

Aber Dutschke nach Boll zu holen, war kühn. „Als Akademiedirektor Eberhard Müller davon erfuhr, war er äußerst ungehalten“, erzählt Reblin. Aber da war Dutschke schon eingeladen, er hatte schnell zugesagt, mit revolutionärem Gruß: „Venceremos!“ – Wir werden siegen. „Eine Ausladung war hoch delikat.“

Gerüchte zum Honorar

Am Ende stimmte Müller zu. Er musste dann den Kopf hinhalten, als eine gewichtige schwäbische Firma die Ausladung Dutschkes forderte und eine andere „erhebliche Einwände“ machte. Beide Unternehmen waren Partner der Akademie. Ferner argwöhnte „ein schwäbischer OB“, so Reblin, die Akademie fördere Dutschke und den SDS mit einem dicken Honorar. Die Gerüchteküche machte daraus 20?000 Mark. Die Akademie machte die Abrechnung öffentlich: 50 Mark plus 162 Mark Reisekosten.

Nicht weniger als 47 Journalisten waren zur Tagung akkreditiert. Das erste, was sie über Dutschke zu berichten hatten: Er hat sein Flugzeug verpasst. „Am Abend zuvor war er bei einem Sit-in, er hatte verschlafen“, erzählt Reblin. Man wartete auf ihn. Die 250 Tagungsgäste – ebenso viele wären noch gerne dabei gewesen – kamen aus allen Schichten, vom Bundesverfassungsrichter a.D. bis zum Studenten. Ganz vorne saßen die Botschafter der USA und Großbritanniens mit Gattinnen.

„Die waren neugierig auf den Revolutionär mit den schwarzen Haaren. Sie fanden ihn amüsant.“ Die Bereitschaftspolizei hielt sich mit einer Hundertschaft in der Boller Turnhalle bereit, falls es Randale geben sollte. Die Akademie hatte sich Polizeipräsenz auf ihrem Gelände verbeten.

Zu erleben war ein Dutschke, der den Kommunismus des Ostens ablehnte, sich gegen jede Gewalt aussprach und sich zu Fehlern seiner Bewegung bekannte. Bloch war erfreut. „Ein neuer Ton in der revolutionären Bewegung.“ Dutschke kam mit Familie. Seine Frau Gretchen und Söhnchen Hosea-Che, gerade mal drei Wochen alt, reisten mit in die schwäbische Provinz. Gretchen Dutschke, heute 76, erinnert sich noch an den langen dunklen Saal, der ihr vorkam „wie ein Keller“, und wie ihr Mann mit Ernst Bloch im Gespräch war. Die beiden wurden Freunde, ihre Ehefrauen auch.

Zwei Monate später folgte das Attentat auf Dutschke. Er überlebte und kämpfte sich wieder ins Leben zurück. Die Kugeln trafen ihn zu einem Zeitpunkt, als er sich zurückziehen wollte, berichtet seine Witwe. Er wollte nicht der Anführer einer antiautoritären Bewegung sein. „Wir hatten schon unsere Sachen gepackt.“

Wo stand Rudi Dutschke eigentlich? War er ein Marxist, für den ihn alle hielten? Nein, sagt seine Witwe. „Den frühen Marx hat er geschätzt. Er las Anarchisten, war aber keiner. Er war auf Rosa Luxemburgs Seite: Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden.“ Als christlicher Sozialist sei er politisch aktiv geworden, er habe sich als Revolutionär verstanden. Dem widerspreche nicht, dass er Mitbegründer der Grünen werden wollte, aber kurz davor an den Spätfolgen des Attentats starb. Gretchen Dutschke: „Grün – das war damals auch revolutionär.“

Die Tagung am Wochenende fragte nach der Bilanz: Was haben die 68er erreicht? Vieles, sagt Gretchen Dutschke. Eine Kulturrevolution, einen antipatriarchialischen Aufbruch, einen neuen Lebensstil. Das unterstreicht Gert Ueding, früherer Rhetorik-Professor an der Uni Tübingen: „In sämtlichen Bereichen unserer Gesellschaft sind Erfolge der 68er spürbar.“ Gretchen Dutschke sieht auch großen Misserfolg: Die Ausbeutung gehe weiter, und die Welt sei nach wie vor auf Geld, Profit und Wachstum begründet.

Stolz ist die Evangelische Akademie Bad Boll heute auf ihre Dutschke-Bloch-Tagung von 1968. Die sei fast schon eine Ikone der Akademiearbeit, sagt Studienleiter Wolfgang Mayer-Ernst.

Quelle: NWZ, Göppingen, 10.9.2018, Autor: Jürgen Schäfer, Foto: Tilman Ehrcke

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