„Öffne Deinen Mund ...“

Head of Aphrodite (Detail), The Cleveland Museum of Art

Sie kennen diese Weisheit gewiss: „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold“. Also: In manchen Situationen entspricht es nicht nur der Höflichkeit, sondern auch der Weisheit, lieber zu schweigen. Überflüssige oder unpassende Worte sollten lieber nicht ausgesprochen werden. „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold“. Die Herkunft dieser Redensart ist unbekannt; möglicherweise stammt sie aus dem arabischen Raum. Durch Gottfried Herder hat sie in der Zeit der Aufklärung unseren Kulturkreis erreicht.

Mir persönlich jedenfalls hat meine Mutter diese Weisheit nahegebracht, und ich sehe sie noch vor mir, wie sie diesen Satz ausspricht, wenn ich mich wieder einmal als Heranwachsender über eine gefühlte Ungerechtigkeit aufregte. Mit diesem Sprichwort bin ich groß geworden.

Besonders als Student habe ich mich dann mit der Weisheit einer anderen Mutter auseinandersetzen dürfen und müssen, nämlich mit der Weisheit der Mutter eines Königs von Massa. Lemuel ist sein Name, der Name der Mutter wird in der biblischen Überlieferung nicht genannt. So heißt es im Buch der Sprüche – und das ist der vollständige Text der Losung für den Monat Mai:

„Öffne deinen Mund für die Witwe, schaffe Recht allen verwaisten Kindern. Öffne deinen Mund zu gerechtem Spruch und schaffe Recht dem Elenden und Armen.“ (Spr 31,8)

Das sagt die Mutter ihrem Sohn, dem König: Es ist weise, den Mund aufzutun, wenn das Recht des Menschen, die Menschenwürde von vulnerablen Menschengruppen verletzt wird. Wenn Gefahr besteht, dass die Verletzlichen gerade in Krisenzeiten mit Füßen getreten werden. Gott hat die Welt weise geordnet, und dazu hat er uns Menschen nicht nur den Mund, sondern die Sensibilität gegeben, notfalls deutlich, politisch, parteilich und klar zu reagieren.

Ich erinnere hier an einen Stuttgarter, der für mich zu solch einem „Mund-Öffner“ geworden ist: Fritz Bauer – 1903 in Stuttgart geboren, später Jurist am Amtsgericht Stuttgart bis 1933. Weil er Jude war, wurde er im März 1933 festgenommen. Er überlebte zwei Konzentrationslager und floh nach Dänemark und Schweden. Nach dem Ende der Nazi-Diktatur setzte er sich mit seinen markanten Worten als Generalstaatsanwalt dafür ein, dass den Verbrechern des NS-Regimes der Prozess gemacht wurde – gegen den Widerstand der Regierungsbehörden. Ihm ist es zu verdanken, dass Adolf Eichmann in Argentinien gefasst werden konnte. Auch von ihm stammen weise Worte. Zum Beispiel diese: „Ich glaube, es ist eine traurige Wahrheit, dass wir unserem Affenzustand noch sehr nahe sind und dass die Zivilisation nur eine sehr dünne Decke ist, die sehr schnell abblättert.“

Öffne Deinen Mund für das Recht der Schwachen! Ja, es könnte sein, dass die sehr dünne Schicht der Zivilisation durch die Corona-Krise noch dünner wird. Die sozialen Verwerfungen könnten zunehmen, wenn auf einmal ein Kassensturz bevorsteht. So viel ist schon jetzt erkennbar: Die Krisengewinner sind gewiss nicht die alleingelassenen Kinder in eh schon überlasteten Familien, auch nicht die alleinerziehenden Frauen und Männer und auch nicht die Sozialhilfeempfänger und Obdachlosen. Aber auch sie werden nicht die Krisengewinner sein: Die Menschen in den Ländern des Südens, in denen teilweise bis heute noch niemand geimpft ist. Die dünne Schicht der Zivilisation könnte bald noch weiter abblättern. Hierzulande. Global.

Öffne Deinen Mund für das Recht der Schwachen! Wir dürfen dieses weise Wort nicht unbeachtet lassen, das Gott der Königsmutter in den Mund gelegt hat. Besonders hier nicht in der Akademie. Wenn es um die Inhalte und Zielgruppen der Akademiearbeit geht. Auch wenn uns alle gerade so viel Mutlosigkeit und Müdigkeit umtreibt und uns die Kraft raubt. Gerade jetzt dürfte diese Weisheit überlebensnotwendig sein – für einen Zusammenhalt hierzulande und auch im globalen Kontext.

Öffne Deinen Mund für das Recht der Schwachen! Die Verletzlichen und Verletzten im Blick: Hier ist Reden Gold und Schweigen allenfalls ein Stück unnützer Klumpen Lehm. Amen.