Flüchtlingstagung

„Uns kommt es nicht darauf an, woher jemand kommt, sondern wohin er will“ sagte Rainer Reichhold, Präsident des Handwerkstags Baden-Württemberg. Tagung zur Willkommenskultur gegenüber Flüchtlingen bringt Austausch, Informationen, Kritik und viele Forderungen

v. l. Annette Stepputat, Angelika von Loeper (c) EABB Martina Waiblinger

Das Wort „Willkommenskultur“ wird in manchen europäischen Ländern bereits als Fremdwort benützt. Bei der Tagung vom 18.-20. September in der Evangelischen Akademie Bad Boll wurde überdeutlich, welche enormen Anstrengungen von den ehren- und hauptamtlichen Mitarbeitenden gefordert sind, um bei den vielen jetzt ankommenden Flüchtlinge diese Willkommenskultur aufrecht zu erhalten und mit Leben zu füllen. Die hoch aktuelle Tagung wurde in Kooperation mit der Evangelischen Akademie Baden, dem Flüchtlingsrat Baden-Württemberg und Pro Asyl durchgeführt.

Nach den Bildern von Flüchtlingen, die von Wasserwerfern vom Grenzübertritt abgehalten werden und die sich zu Fuß durchschlagen müssen, kam die Flüchtlingstagung in der Evangelischen Akademie Bad Boll zum richtigen Zeitpunkt. Insbesondere die vielen ehren- und hauptamtlichen Mitarbeitenden in der Flüchtlingsarbeit erwarteten konkrete Hilfestellungen, nachdem so viele Menschen in den Kommunen angekommen waren. Für sie waren in besonderer Weise die Workshops am Samstag hilfreich. Hier konnten sie in vielen Fragen zu Einzelfällen von den Profis beraten werden, sie konnten sich mit anderen austauschen und gute Beispiele aus der Praxis mitnehmen. Sie konnten handfeste Informationen zum rechtlichen Ablauf des Asylverfahrens und zum Umgang mit Traumatisierten erhalten. Immerhin muss man von 40 Prozent traumatisierten Flüchtlingen ausgehen.

Hohe Anforderungen an Ehrenamtliche

Thematisiert wurden auch die hohen Anforderungen an die ehrenamtliche Arbeit und Überforderungssituationen, Themen wie z.B. der Umgang mit jungen Männern oder im Umgang mit Distanz und Nähe in den Beziehungen. Die Wohlfahrtsverbände forderten deshalb unisono, dass forderten deshalb unisono, dass ausreichend Hauptamtliche erforderlich sind, die die ehrenamtliche Arbeit fachlich begleiten und unterstützen. Sie betonten auch die Bedeutung der Ehrenamtlichen im Wohnquartier, wenn es um Akzeptanz und Verständnis der Flüchtlinge geht. Besonders gefragt waren der Jurist Jürgen Blechinger von der badischen Landeskirche und der Referent für Flüchtlinge Ottmar Schickle vom Diakonischen  Werk Württemberg.

Sophia Wirsching von Brot für die Welt beleuchtete die Bemühungen der EU dar, direkt mit den Transitstaaten in Nordafrika zu verhandeln, damit die Flüchtlinge in diesen Staaten erfasst werden und dort gleich über sie entschieden wird. Ziel dieser Maßnahme ist letztendlich, dass die meisten Flüchtlinge überhaupt nicht nach Europa kommen und in Afrika bleiben. Es gibt bereits Abkommen mit Ägypten, mit Sudan, mit Marokko. Sophia Wirsching stellte dazu die kritische Anfrage, wie in den Transitländern, die meist von Diktaturen regiert werden, gewährleistet werden kann, dass dies mit rechtsstaatlichen Mitteln erfolgt.  Norbert Trosien vom Flüchtlingshilfswerk der UN (UNHCR) betonte, dass die EU-Staaten kaum Plätze in Programmen zur humanitären Aufnahme von Flüchtlingen (sog. Resettlementprogramme) zur Verfügung stellen. In der Diskussion wurde deutlich, dass gerade Aufnahmezentren in den Transitländern nur  funktionieren können, wenn dann die Flüchtlinge  auch in die EU einreisen könnten.

Mitverantwortung Europas

Auf die Frage, warum gerade jetzt so viele Flüchtlinge kommen, antwortete Norbert Trosien, dass Griechenland, Malta und Italien inzwischen so viele Flüchtlinge aufgenommen haben, dass die Kapazitäten erschöpft seien und sie deshalb gezwungen seien, die Flüchtlinge weiterziehen lassen, ohne sie zu registrieren. Ein weiterer Grund sei, dass dem UNHCR das Geld ausgehe und die betroffenen Länder nicht mehr ausreichend unterstützt werden könnten. Trosien hielt sich mit Kritik an Europa nicht zurück: „Wir haben die Fluchtursachen selbst produziert: Unsere Wirtschaftspolitik mit Lebensmittelexporten nach Afrika, die dort Hunger produzieren und mit den Waffenexporten nach Nahost sind Ursachen für die jetzigen Flüchtlingswanderungen nach Europa.“

Elena Guistetto, die als Praktikantin einer italienischen protestantischen Kirche in italienischen Auffanglagern z.B. in Lampedusa gearbeitet hat, berichtete von der unerträglichen Situation in den Rückführländern am Beispiel Italien. Die Erstaufnahme könnte man geradezu als Inhaftierung bezeichnen.  Ehrenamtliche sei nicht gestattet, die Erstaufnahmeeinrichtungen zu betreten, es fehle an medizinischer Versorgung und nach der Anerkennung bekämen die Flüchtlinge keine Arbeitserlaubnis und keinerlei soziale Unterstützung. Die Menschen sind sich selbst überlassen und mafiösen Strukturen ausgesetzt.

Kritik am Entwurf des Innenministeriums

Der Jurist Jürgen Blechinger vom Evangelischen Oberkirchenrat Karlsruhe befasste sich mit dem Entwurf des Innenministeriums für ein neues Asylgesetz und zur Zukunft von Dublin III. Er kritisierte insbesondere die Verschärfung der Möglichkeiten in dem Entwurf, Flüchtlinge zu inhaftieren. Ferner erinnerte er daran, dass das Dublin-Abkommen schon immer ungerecht war, weil es nur den Versuch darstellt, Kerneuropa vor den Flüchtlingen zu schützen und das Problem den Mittelmeer-Anrainerstaaten bzw. den Balkanstaaten zu überlassen. Insofern sei es nun einfach, Länder wie Ungarn u.a., denen die Probleme überlassen wurden, als die Bösen zu diffamieren. Zudem sei Dublin III schon immer wieder ausgesetzt worden, seit 2011 für Flüchtlinge aus Griechenland und seit neuestem für syrische Flüchtlinge.

Alle Anwesenden waren sich einig, dass es für ein Gelingen der Integration besonders wichtig ist, dass die Flüchtlinge schnellst möglich zur Schule können bzw. arbeiten können.  Rainer Reichhold, Präsident vom Handwerkstag Baden-Württemberg betonte auf dem Podium am Sonntag: „Uns kommt es nicht darauf an, woher jemand kommt, sondern wohin er will.“ Er forderte aber dringend eine Entbürokratisierung bei den Verfahren und darum, dass die Betroffenen früh genug ausreichende Deutschkenntnisse erhalten. Momentan seien die bürokratischen Hürden zu hoch, wenn es darum ginge, ein Praktikum oder einen Schnupperkurse anzubieten oder die Frage nach Versicherungen zu klären. Ferner forderte er, dass jungen Flüchtlingen eine Duldung von fünf Jahren benötigen statt nur einem Jahr, damit sie nach der dreijährigen Ausbildung zwei Jahre hier arbeiten können. Sonst wäre das Geld für die Ausbildung mehr oder weniger umsonst ausgegeben worden. Da diese auch meist in praktischen Berufen ausgebildet werden, könnten sie diese Fertigkeiten auch später in ihren Heimatländern gut gebrauchen.

Angelika von Loeper, Vorsitzende des Flüchtlingsrats Baden-Württemberg stellte auf dem Podium die Frage an Dr. Ralf Schäfer vom baden-württembergischen Integrationsministerium, was mit dem  Heidelberger Drehkreuz geplant sei: „Ist das Drehkreuz wirklich dafür da, dass die Verfahren beschleunigt werden oder sollen hier in erster Linie die Balkanflüchtlinge von denen getrennt werden, die eine Bleibeperspektive haben?“ Dr. Schäfer verneinte die Vermutung. Er erinnerte daran, dass man in Baden-Württemberg wirklich gute Standards für die Flüchtlinge habe, was Deutschkurse und was die Unterbringung beträfe. Und obwohl es wirklich große Wohnungsprobleme gäbe, wolle die Landesregierung  alles dafür tun, dass Flüchtlinge nicht in Zelten untergebracht werden müssen. Er forderte seinerseits, dass die kompletten Ressourcen von THW und Bundeswehr umgehend für die Unterbringung und Versorgung der Flüchtlinge zur Verfügung gestellt werden.

Gari Pavkovic von der Abteilung Integration der Landeshauptstadt Stuttgart ergänzte die Forderungen noch für den Bildungsbereich: „Die Flüchtlingskinder brauchen eine Ganztagesschule.“  Ferner forderte er, wie manche andere, dass die Schulpflicht von Anfang an bestehen sollte und dass Schulmaterial ausreichend finanziert werden muss.

Als kulturellen Höhepunkt der Tagung konnte Studienleiter Wolfgang Mayer-Ernst am Samstagabend MC Manar begrüßen. Der 15-jährige palästinensisch-syrische Rapper, der mit seiner Familie seit kurzem in der Nähe von Bad Boll als Flüchtling lebt, brachte mit seinen Raps Bewegung und Musik in den Festsaal der Akademie. Danach wurde der Film gezeigt „On the Bride’s side“, in dem dokumentarisch seine Flucht und die von anderen Flüchtlingen von Italien nach Schweden gezeigt wird. Hier wurde das Diskutierte und Gehörte plötzlich sehr authentisch.

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