Die Stuttgarter Tante

Sorge um die Vulnerablen, Verletzlichen, Schwachen

Der Anruf bei der hochbetagten Tante. Zu lange auf der To-do-Liste. Heute rief ich an. Doch die Tante ging nicht ans Telefon. Zum Glück hat sie einen Anrufbeantworter, den sie auch immer abhört. Ich spreche drauf: „Geht es dir gut? Hättest du gedacht, dass du auf deine alten Tage so was erlebst wie das Coronavirus?“

Wenige Stunden später ruft meine Stuttgarter Tante zurück. Putz munter. Sie muss wohl das Telefon überhört haben. Sie habe in ihrem Wintergarten die Sonne genossen und sei eingeschlafen. Ja, klar sei sie gut versorgt durch die Familie und überhaupt meinte sie in ihrer schwäbisch etwas strengen Art: „Das hat es bei mir noch nie gegeben, dass ich nicht für mindestens zwei Wochen Essen im Haus hab.“ Sie habe Seife, das reicht. Von wegen Desinfektionsmittel. „Hab ich noch nie gebraucht.“

Klar, aus dem Haus geht sie nicht. Ihr Enkel ist Medizinstudent. Er arbeitet in einem Krankenhaus der Landeshauptstadt. Notaufnahme. Kann gut sein, dass er demnächst hilft, Coronainfizierte zu versorgen. Wir stehen ja immer noch am Anfang der Infektionswelle, meinte Ministerpräsident Manfred Kretschmann schon am 24. März im Radio.

Die hochbetagte Stuttgarter Tante, der geschätzte Lehrer – auch 85 Jahre alt – der über 90-jährige Theologieprofessor aus Tübingen. In diesen Ausnahmetagen werde ich sie alle anrufen. Sie waren und sind lange vor mir. Bei Besuchen erzählen sie von früher. Mir ist das wichtig und wertvoll. Was ist, wenn sie sie nicht mehr erzählen? Geschichten und Erlebnisse, wundersam und verstörend, weise und Mut machend zugleich. Als Kind oder Jugendliche erlebten sie Krieg, Flucht, den Hunger und die Angst. Haben die grauen Busse gesehen, das Flüstern gehört über Hinrichtungen. Bekamen dunkle Fetzen mit über die Morde an den Juden. Haben sich am Ende vor Bomben und Tieffliegern in letzter Minute versteckt. Dann das Danach. Die Stuttgarter Tante baute mit dem schwäbischen Gen der Sparsamkeit das Wohlstandsdeutschland mit auf. Sie lebt schon lange im Wohlstand, dank guter Alters- und Krankenversorgung. Und ich? Ich bin ein Wohlstandskind durch und durch. Natürlich kenne ich Krisen. Aber Corona ist was ganz anderes. Dieser Tage habe ich wirklich das erste Mal richtig Angst um meine Familie.

Will mir die Bundeskanzlerin vielleicht diese Angst nehmen? Sie sagte: Ziel der harten Infektionsschutzmaßnahmen zur Eindämmung der Infektionen sei der Schutz der Vulnerablen. Meine Stuttgarter Tante, der 85-jährige Lehrer, der über 90 Jahre alte Theologieprofessor; damit sind sie gemeint und noch viele andere Vulnerable, Verletzliche, Schwache. Die politische Maxime: Coronavirusbekämpfung durch Kontaktsperren, Homeoffice, Shutdown, Intensivbettenausbau hat nicht nur das Ziel, die Ausbreitung zu verlangsamen. Es geht doch vor allem um den Schutz der besonders Gefährdeten. Im Nachhinein wird mir klar. Das war eine hochethische Entscheidung. Ob es da zwischen Kabinett, Virolog_innen und Mediziner_innen unterschiedliche Meinungen gab, dringt vielleicht nie ans Licht. Da wird es mir richtig anders, dass Briten und Niederländer die Coronapandemie zunächst völlig anders bekämpfen wollten: Durchseuchung von 70 Prozent der Bevölkerung, um eine Grundimmunisierung zu erreichen. Boris Johnson hätte dafür bis zu 750.000 Tote in England in Kauf genommen. 750.000 Tote! Der Plan wurde verworfen. Die Erwägung dieser Strategie zeigt, wie gefährdet die Ethik des Über(lebens) auch der Schwachen in einer brutalen Extremsituation wie der Coronapandemie ist. Damit die meisten gesund bleiben, hätte eine Gesellschaft in Kauf genommen, dass Hundertausende sterben: Alte, Vorerkrankte. Wer noch? Fragt einfach Raul Krauthausen, den „Glasknochenbesitzer“, wer alles noch zu den Vulnerablen gehört.

Mein Gott, was bin ich froh, dass ich in Deutschland lebe. Hier gilt: Schutz der Schwachen vor dem Virus. Hoffentlich halten wir das durch – auch noch in zwei oder mehr Monaten. Meine hochbetagte Stuttgarter Tante macht sich all diese Gedanken nicht. Sie sitzt mit ihren 95 Jahren in der Frühlingsonne und hält ein Nickerchen.

Theologin Gerda Müller ist Studienleiterin im treffpunkt 50plus. Der treffpunkt 50plus in Stuttgart ist die erste Adresse für Bildungs- und Kulturarbeit mit älteren und für ältere Menschen.

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