Von der Bibel her argumentiert?

Ein Blogbeitrag zum überraschenden Freispruch des evangelischen Pastors Olaf Latzel

Der Bremer Pastor Olaf Latzel wurde von einem Bremer Landgericht vom Vorwurf der Volksverhetzung überraschend freigesprochen, obwohl er in einem YouTube-Beitrag von homosexuell lebenden Menschen im gröbsten Maße verunglimpfend und verletzend gesprochen hatte. Mehr noch: Homosexualität sei vom Teufel. Latzels Äußerungen möchte ich in meinem Kommentar nicht als Zitat wiedergeben. Es ist für uns als evangelische Kirche schon tragisch und beschämend, dass solche Äußerungen zur Sexualethik in der Öffentlichkeit die Runde machen!

Tragisch und beschämend ist dieses Gerichtsurteil für mich auch deswegen, weil mehrheitlich in unseren evangelischen Kirchen – unter anderem in unserer Akademie – in Praxis und theologischer Reflexion eine andere Meinung und Einschätzung gepflegt wird. Das, was Pastor Olaf Latzel öffentlich in seinen Predigten und Beiträgen äußert, gehört zwar auch zu unserer Kirche, und diese kann es aushalten, sich mit solchen eher randständigen Einschätzungen auseinanderzusetzen. Aber diese Stimme ist beileibe nicht das, was in der Mitte unserer Kirche selbstverständlich gelebt wird und zwar eine theologisch gut begründete Offenheit gegenüber unterschiedlichen sexuellen Orientierungen.

Aufhorchen lässt mich in diesem Zusammenhang die Begründung: Das Gericht verweist in seinem Urteil darauf, dass der Pastor von der Bibel her argumentiere.

Vorausgegangen war u.a. die Anhörung eines bibeltheologischen Gutachters. Der römisch-katholische Theologe Ludger Schwienhorst-Schönberger, Universitätsprofessor für Alttestamentliche Bibelwissenschaften an der Universität Wien hatte dargestellt, dass Latzels Bewertung der Homosexualität als Sünde von der Sache her eine gute biblische Grundlage besitze. Aus christlicher Sicht könne auch die radikale Gendertheorie als Widerspruch zur göttlichen Schöpfungsordnung angesehen werden. Das gelte auch für die Bewertung von Homosexualität als Degenerationsform der Gesellschaft.

Ausschlaggebend ist hier, wie in der Gesellschaft und offensichtlich auch vor Gericht mit Aussagen der Bibel umgegangen wird: Sind biblische Worte unumstößliche Wahrheiten, die eins zu eins in die Gegenwart zu übertragen sind? Der Gutachter wie auch der Richter, scheinen davon überzeugt zu sein. Ich frage mich: Wie kann so etwas allen Ernstes behaupten werden, ohne im gleichen Atemzug zwingend darauf hinzuweisen, dass dies nicht dem  gegenwärtigen Konsens der theologischen Wissenschaften entspricht? Biblische Worte sind Worte biblischer Zeugen, die in ihrer Zeit stehen. Aus ihrem historischen Kontext heraus argumentieren sie und nahmen dabei Ansichten ihrer Umwelt auf. So kommt z.B. auch die Abwertung der Homosexualität durch Paulus in Röm 1,26-27 in die Bibel – ganz abgesehen davon, dass es sich hier ebenfalls um sehr randständige Urteile handelt.

Und ist es nicht äußerst fragwürdig, dass ein erzkonservativer Vertreter der katholischen Theologie vor Gericht – ebenfalls gebunden an sein katholisch-dogmatisches System – die Verteidigung übernimmt, während eine liberale evangelische Gutachterin, Isolde Karle, mit einem Antrag auf Befangenheit konfrontiert wird? Auch deswegen erscheint mir das Gerichtsurteil als sehr haltlos und beschämend naiv. Es geht von äußerst bedenklichen Grundannahmen aus. Ich kann nicht verstehen, wie in diesem Urteil noch eine sehr weite Auslegung der Meinungsfreiheit erkennbar ist. Diese findet dort ein Ende, wo mit verzerrten Fakten umgegangen, die Systemgebundenheit von Fakten ausgeblendet und auf dieser Basis dann auch noch die Verunglimpfung von Menschen mit anderer sexueller Orientierung direkt oder indirekt zugelassen wird. Gerichtsurteile sind nicht heilig, sondern dürfen hinterfragt werden. Und genau dies sollte nun auch geschehen. 

Wie stehen Sie dazu? Ich bin gespannt auf Ihre Kommentare.

Kommentare und Antworten

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Bemerkungen :

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    Hartmut Steeb 14.06.2022 um 09:08
    Die Stellungnahme von Prof. Dr. Hübner halte ich für sehr bedenklich. Juristisch ist klar festzuhalten, dass die Äußerung von Pfarrer Latzel in einer Gemeindeveranstaltung keine Volksverhetzung ist und war, unabhängig davon, wie man sich zu seiner Meinung und zu seiner Wortwahl stellt. Nur über diese Frage hatte das Gericht zu urteilen. Dass ein Pfarrer es offenbar befürwortet hätte wenn ein anderer Pfarrer wegen dieses Vorgangs vom staatlichen Gericht schuldig gesprochen worden wäre, ist unwürdig und stimmt mich sehr traurig. Und wo war die Stimme gegen die strafwürdigen Angriffe gegen Pfarrer Latzel und seine Gemeinde? Oder habe ich das überlesen?
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      Jörg Hübner 15.06.2022 um 06:10
      Sehr geehrter Herr Steeb,
      für Ihren kritischen Kommentar bedanke ich mich und freue mich, dass Sie sich auf diese Weise am Diskurs beteiligen. Allerdings - bitte haben Sie Verständnis dafür, dass ich dies so offen sage - werden in diesem Kommentar verschiedene Ebenen der Argumentation vermischt, die meines Erachtens sorgfältig zu unterscheiden sind:
      1. Wenn es um strafwürdige Angriffe gegenüber Pfarrer Olaf Latzel und/oder seine Gemeinde geht, sind alle Betroffenen nur zu ermutigen, die nötigen Rechtsschritte einzuleiten und den Straftatbestand ahnden zu lassen. Dieser Punkt war und ist allerdings nicht Gegenstand meines Blogbeitrags gewesen; zudem sollte sich dies von selbst verstehen, wenn entsprechende Straftatbestände vorliegen.
      2. Natürlich gibt es in der Empörungsgesellschaft, in der wir mit dem "neuen Strukturwandel der Öffentlichkeit" (Jürgen Habermas) leben, immer wieder Grauzonen. Hier werden Menschen verunglimpft und beleidigt, entwürdigt und klein gemacht. Im Zusammenhang dieser Diskussion haben sich alle Seiten zu fragen, ob sie wirklich respektvoll miteinander umgehen - die Menschen, die Sie vor Augen haben, aber auch genauso Pfarrer Olaf Latzel. Meines Erachtens ist der respektvolle Umgang miteinander eine der bedeutsamsten Seiten christlicher Freiheitspraxis und allerdings nicht beliebig bzw. so oder so zu sehen. Hieran mangelt es an allen Orten - und genau dafür machen wir uns in der Evangelischen Akademie Bad Boll stark.
      3. Die meines Erachtens im Tonfall sowie in der theologischen Argumentation zweifelhaften Äußerungen von Pfarrer Olaf Latzel, die ich hier nicht zitieren möchte, weil sie damit nur noch mehr an Gewicht gewinnen, sind nicht nur in (internen) Gemeindeveranstaltung zu hören gewesen, sondern sind auch viral gegangen. Dadurch, dass sie den Kontext der Gemeinde verlassen haben, gewannen sie einen höheren Grad an öffentlicher Wahrnehmung. Und das ist auch der Grund dafür, dass sich ein Gericht mit diesen Äußerungen beschäftigen musste.
      4. Ob es sich um Volksverhetzung nach StG 130 handelt, hat das Gericht zu entscheiden, und hier kommt es ja, wie Sie wissen, zum Berufungsverfahren. Auf den Ausgang bin ich sehr gespannt. Sehr interessant finde ich in diesem Zusammenhang die weiter im Blogbeitrag zu lesenden Kommentare, die die theologische Begutachtung im Gerichtsverfahren in Frage stellen.
      5. Sie schreiben, dass Sie es traurig macht, dass ein Pfarrer - Sie meinen, wenn ich Sie recht verstehe, mich - es befürwortet, dass ein anderer Pfarrer wegen dieses Vorgangs schuldig gesprochen wird. Aber: Wir Pfarrer*innen sind normale Bürger*innen, und wenn eine*r von uns einen Straftatbestand begeht, gehört sie oder er vor Gericht. Dies sollten wir meines Erachtens als selbstverständlich erachten.
      6. Im Zentrum meines Kommentars stand jedoch eine theologische Frage, die von allen bisher genannten Ebenen der Beurteilung zu unterscheiden ist. Ich habe die hermeneutische Frage gestellt, natürlich auch unter Verweis auf die klassischen und immer wieder genannten Belegstellen aus der hebräischen und der griechischen Bibel. Ihnen kann man nun aber, wenn die hermeneutische Frage ernstgenommen und eine exegetische Betrachtung einbezogen wird, nicht entnehmen, dass Homosexualität in biblischer Sicht Sünde und deswegen zu verdammen ist. Für mich bereichernd und weiterführend waren in diesem Zusammenhang auch Kommentare, die Sie in den weiteren Kommentaren finden.
      Hoffentlich habe ich mit meinem Kommentar hier und da zur Klärung Ihrer kritischen Fragen beigetragen.
      Herzliche Grüße aus Bad Boll
      Jörg Hübner
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    Hannes Düchting 13.06.2022 um 09:33
    Ich möchte mich auf diesem Wege für die klaren Worte bedanken.
    Vor allem dafür, dass Sie klar machen, dass die menschenverachtenden Äußerungen des Pfarrers Latzel rein gar nichts mit der Bibel zu tun haben.
    Ähnlichen Schwachsinn (sorry für die Worte; das Urteil ist etwas mehr als nur "unheilig"), wie ihn das Gericht von sich gibt, habe ich bislang nur von extremen Kritikern oder Feinden der Kirchen gehört. Deswegen ist es wichtig, dass von offizieller Seite (wie Sie und die Akademie es irgendwie sind) klar gemacht wird, dass Äußerungen wie die des Pfarrers verurteilt werden müssen - notfalls auch als Volksverhetzung im Rahmen des Strafrechts.
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    Thomas Wemheuer-Linkhof 12.06.2022 um 12:10
    Sehr geehrter Herr Prof. Hübner,
    um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen. Ihrem Entsetzen über das Urteil an sich stimme ich ohne Einschränkung zu. Ihrer Analyse und Begründung nicht.
    Auch ich empfinde es als römischer Katholik erstaunlich, dass ein weltliches Gericht bei der Überprüfung auf die Idee verfällt, ausgerechnet einen katholischen Gutachter mit biblischer Qualifikation zurate zu ziehen. Andererseits liegt doch eben in der quasi frei verfügbaren Bibelinterpretation im Christentum das eigentliche Problem. Für Sie und mich ist das Herangehen an die uns heiligen Schriften im zeitgemäß historisch-kritischen Stil selbstverständlich. Aber die bis zu naiven oder politischen Fundamentalismen neigenden Strömungen im Umgang mit der Bibel in den großen christlichen Konfessionen stehen in der Kirchenpraxis nach meinem Eindruck keineswegs nur am unbedeutenden Rand. Das absurde „wörtlich nehmen“ von Bibelversen und Perikopen ist doch außerhalb der Universitäten in nicht wenigen Predigten Sonntag für Sonntag selbstverständlicher Teil der Verkündigung. Da fällt es nur nicht gleich so auf, weil es häufig um - zumindest auf den ersten Blick - harmlosere Themen als Sexualität geht.
    Wenn nun ein weltliches Gericht überprüfen will, ob die Äußerungen eines Verkünders wirklich volksverhetzend sind oder „nur“ eine radikale Interpretation dessen, was als Mitglied einer Religionsgemeinschaft deren biblische Auslegung prinzipiell erlaubt, steht es beim Christentum des 21. Jh. in Deutschland vor einem erheblichen Problem. Wer verkündet denn nun den richtigen Ansatz? Also hat das Gericht nach jemandem Ausschau gehalten, der beglaubigt: Ja, eine solch radikale Ablehnung und Verurteilung der Homosexualität ist seriös aus den heiligen Schriften ableitbar. Mit Schwienhorst-Schönberger wurde ein solcher Theologe gefunden.
    Das ist zwar peinlich für das Christentum, zumal es bei der alttestamentlichen Interpretation ohne jüdische Expertise m.E. gar keine Einordnung geben kann, aber aus Sicht des weltlichen Rechts leider nachvollziehbar.
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      Jörg Hübner 13.06.2022 um 02:48
      Sehr geehrter Herr Wemheuer-Linkhof,
      vielen Dank für Ihren Kommentar. Ich teile Ihre Traurigkeit (oder: Rat- und Fassungslosigkeit?), mit der in unseren Kirchen so manches Mal fundamentalistische Auslegungen biblischer Berichte und Weisungen begegnen. Hier wäre noch sehr vieles zu tun - gerade angesichts des massiven Zurückgangs christlicher Konfessionalität in der Gesellschaft. Jenseits dieser Beobachtung frage ich mich jedoch, ob man die Auslegung von Schwienhorst-Schönberger noch, wie Sie schreiben, überhaupt als "seriös" bezeichnen kann. Zur Seriosität wissenschaftlicher Arbeit gehört doch, dass die unterschiedlichen Meinungen miteinander weiterführend ins Gespräch gebracht bzw. zumindest abgrenzend genannt werden. Wäre das erfolgt, hätte kein*e Richter*in sagen können, dass es sich bei der vorliegenden Interpretation um die alleinig wahrhaftige Auslegung biblischer Hinweise handelt, die hier begegnet. Bedenkenswert halte ich den Hinweis des anderen Kommentators J. Elschner-Sedivy (siehe unten), der kritisch anfragt, wie überhaupt es zur bibeltheologischen Begutachtung vor Gericht bei einer Anklage zur Volksverhetzung gekommen ist. Er könnte - in Verbindung mit Ihrem Kommentar - Recht haben, wenn er schreibt, dass sich dies in unserer Gesetzgebung in solchen Verfahren verbietet und stattdessen z.B. der menschenrechtliche Bezug in der Begründung ausschließlich wegleitend für ein Urteil ist. Anders als in der sehr verschiedenartigen Auslegung biblischer Weisungen stehen solche Normen unzweifelhaft fest.
      Herzliche Grüße
      Jörg Hübner
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      Joachim Elschner-Sedivy 14.06.2022 um 09:11
      Was den Ruf nach „jüdischer Expertise“ angeht, gebe ich die umfangreich akademisch gestützte Perspektive zu bedenken, dass wir, sofern wir damit konventionell vom rabbinischen Judentum sprechen, von einer Form des Judentums sprechen, die sich erst zeitgleich mit dem Christentum ab der („gemeinsamen“) großen politisch-kulturellen Krise von 70 u.Z. entwickelt hat - zeitgleich mit dem Christentum und in intensiver Interaktion und Interferenz mit diesem. So betrachtet gibt es keinen sachlichen Grund, „dem Judentum“ (gemeint: das rabbinische als das einzige noch maßgeblich existierende Judentum) eine anciennitätsbedingte Interpretationshoheit in Fragen der „vorchristlichen Bibel“ einzuräumen (Interpretationsbeteiligung - gerne; Interpretationsabhängigkeit - nein). Von manchen mag dieser Standpunkt als „kulturchauvinistisch“ beargwöhnt werden, aber so ist er von mir nicht nur nicht gemeint, sondern dafür gibt es meines Erachtens auch überhaupt keinen sachlichen Grund.
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    Joachim Elschner-Sedivy 10.06.2022 um 07:54
    (Lieber Herr Miller, Lieber Herr Wachlin - diese Antwort richtet sich aber auch an alle anderen Mitlesenden, deshalb hier als eigener neuer Kommentar:)
    Mit guten Gründen lesen Alttestamentler und Exegeten die Vorgänge in Genesis 19 heute als Dominanzgeste (siehe z.B. Joachim Kügler), nicht als Ausdruck sexueller Orientierung. Der einschlägigen psychologischen Forschung (siehe z.B. Thomas Elbert) ist seit langem bekannt, dass beispielsweise Soldaten die im Krieg häufigen Vergewaltigungen (scheußliches Thema!) oft nicht aus sexueller Lustorientierung heraus begehen, sondern eher als Vollzug von Machtgenuss (freilich unter psychisch allgemein extrem überreizten Umständen), und dass in solchen Zusammenhängen tatsächlich die eigentliche sexuelle Orientierung des Täters oft in den Hintergrund tritt (zumal das Opfer hier sogar bevorzugt männlich ist, da nach klassischem gesellschaftlichem Rollenverständnis die Demütigung eines Mannes noch mehr Machtdemonstration beinhaltet als die Demütigung einer Frau). Es ist sehr wahrscheinlich, dass es dieses letztere Thema ist, das für die alttestamentlichen Autoren ursprünglich im Mittelpunkt steht. Was die Gesetz-Stelle Leviticus 18,22 angeht, so lautet deren wörtliche Übersetzung nicht: „Du sollst nicht mit einem Mann schlafen, wie man mit einer Frau schläft“ (auch wenn diese Lesart den meisten unserer Standardübersetzungen entspricht), sondern: „Du sollst nicht mit einem Mann im Bett einer Frau liegen“, was sich vermutlich gegen die sexuelle Interaktion einer Frau mit zwei männlichen Sexualpartnern gleichzeitig richtet, da man auf der Basis antiker „naturwissenschaftlicher“ Anschauungen als Folge solcher Vorkommnisse, unabhängig davon, wie sie moralisch zu bewerten sind, Missbildungen des bei einem solchen Anlass möglicherweise gezeugten Kindes befürchtete (siehe z.B. Joanna Töyräänvuori). (Ich betone übrigens, dass dies alles keine Themen sind, mit denen ich gerne meine Freizeit verbringe!). Vermeintliche biblische Thematisierungen von Homosexualität lösen sich also allenthalben sehr weitgehend in Wenig bis Nichts auf, wenn man genau hinsieht. Das bedeutet nicht, dass die kulturelle Welt des Alten Testaments besondere Sympathien für Homosexualität hegte, was kaum vorstellbar ist; es bedeutet vielmehr, dass die Verfasser des Alten Testaments dieses Thema schlicht sehr weitgehend ignorierten. Das gibt uns heute wiederum eine große Freiheit, mit allen Rechten und Pflichten, im Interpretieren der biblischen Texte: Wir müssen oft in hohem Maße je „selbst und allein“ verantworten, was wir aus diesen Texten herauslesen möchten, und können unsere Lesart oft nicht gültig und nicht tragfähig in der einfachen Behauptung verankern, sie entspräche einer gleichsam „natürlichen“ Art und Weise, diese Texte zu verstehen (man könnte manchmal durchaus auch versucht sein zu sagen: „leider - schön wär’s, wenn wir so viel unmittelbare Klarheit von der Bibel vorgegeben bekämen“). Herzlicher Gruß!
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    Wolfgang Graf 09.06.2022 um 10:59
    Ich bin Katholik.Habe aber als Vertreter deer Schwerbehinderung schon mehrere Seminare in Bad Boll
    besucht.Solche Urteile haben dazu beigetragen daß ich mich von den Kirchen sehr stark distanziert.
    habe.Homosexualität als Sünde zu bezeichnen ist für mich faachistoid.Kann es eigentlich nicht mehr
    vor meinem Geswissen vereinbaren noch Mitglied einer der großen Kirchen in Deutsschland zu sein
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    Wolfgang Miller 09.06.2022 um 09:44
    1. Kann man bei dieser Thematik wirklich von einem "gegenwärtigen Konsens der theologischen Wissenschaften" sprechen? Ist die katholische oder auch die orthodoxe Theologie etwa voll dabei - bei diesem Konsens?
    2. Zu Röm 1,26f: Inwiefern argumentiert Paulus an dieser Stelle aus seinem historischen Kontext heraus bzw. nimmt Ansichten seiner Umwelt auf? Inwiefern ist sein Urteil an dieser Stelle "sehr randständig"? Die Stelle im 1. Kapitel des Römerbriefs ist geradezu erschreckend prominent. Nach dem Urteil des Apostels zeigt sich sogar in 1. Linie am abartigen Umgang mit der Sexualität äußerst signifikant, dass die Menschheit unter einem gottgewirkten Verhängnis steht, das sie sich infolge ihrer Gottlosigkeit zugezogen hat. Auffallend ist da übrigens noch, dass Paulus die Frauen vor den Männern nennt.
    3. Zu den bekannten alttestamentlichen Stellen, die homosexuelle Praxis als todeswürdiges Vergehen einstufen, kommt auch Gen 19,4-11 hinzu: Die Männer Sodoms verlangen von Lot die Herausgabe der Engel, um sich über sie herzumachen - auch das aus biblischer Sicht offenbar der Inbegriff der Verderbnis.
    4. Meines Erachtens wird sowohl im Alten wie auch im NeuenTestament homosexueller Umgang verurteilt, sofern er von Menschen praktiziert wird, die eigentlich "normal", also heterosexuell veranlagt sind, aber aus Lust an der Abartigkeit die Perversion suchen und ihr dann verfallen . Die Knabenliebe bei den Griechen z.B., die Paulus vor Augen hat, wurde ja massenhaft praktiziert und sicher ganz überwiegend von heterosexuell veranlagten Männern. Für die Männer von Sodom gilt Gleiches.
    5. Davon zu unterscheiden und dann auch ganz anders einzuschätzen sind m.E. Menschen, die mit einer homosexuellen Orientierung auf die Welt kommen. Dass dies der Fall ist, ist m.E. eine unumstößliche Tatsache. Wie hat Gott als ihr Schöpfer es mit diesen Menschen gemeint? Wie sollen diese Menschen mit dieser ihrer gottgegebenen, aber dennoch auch problematischen Veranlagung umgehen? Eine für mich noch ungelöste Frage.
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      Klaus Dietrich Wachlin 09.06.2022 um 10:38
      Sie haben vollumfänglich recht und ich halte Hübners Kritik für unterkomplex.
      Es ist exegetisch vollumfänglich unbestreitbar, was Sie darlegen: Homosexualität wird an diesen Stellen als Sünde dargestellt.
      Genauso unbestreitbar dreht sich beim Imperativ "Sonne stehe still" um ein egozentrische Weltbild.
      Die Moral von der Geschicht: es ist unsere Aufgabe, uns unseres Verstandes ohne fremde Hile zu bedienen und ein Urteil zu fällen darüber, wie angesichts der aktuellen Forschungslage Homosexualität grundsätzlich zu bewerten ist: als ein dem Willen zugänglicher Optionenraum, oder als eine genetische Vorgabe, die dem Willen (grundsätzlich) entzogen ist oder als ein (dann differenzierter zu bewertender) Mix aus beidem.
      Wie das Sonne stehe still- Beispiel lehrt, zwingt uns ein Fortschritt in der wissenschaftlichen Erkenntnis (" Und sie dreht sich doch!") zu einer Neubewertung einer biblisch unzweideutigen Aussage.
      Aus diesem Grund eröffnet sich im Rahmen von Meinungsfreiheit ein weiter Raum der Kontroverse.
      Erst nach Jahrhunderten hat die katholische Kirche sich bequem, Galiläi zu rehabilitieren. Bis dahin hat sie den Disput über diese Frage offen gehalten.
      So halten Abermillionen von Christen die Frage offen, welche Vorstellung von Schöpfung verbindlich ist, indem sie wörtlich Genesis 1-3 für erdgeschichtlich zutreffend halten. Und im Rahmen der vom GG garantierten Freiheit der Person, der Religion und der Meinung dürfen die Menschen das auch. Ausserdem sind diese Auffassungen zudem "biblisch begründet".
      Der Witz ist: in Wahrheit sind die Gegengründe nicht "biblisch" - vielmehr entspringen sie dem Bereich wissenschaftlicher Forschung (siehe Teilhard de Chardin).
      Die biblische Bewertung von Homosexualität ist entschieden: sie stellt eine schwere Sünde dar.
      Theologisch aber ist sie - wie kosmologische Frage, solche der Sexualität und der Geschlechterverhältnisse usw. usw. nur entscheidbar durch gute, sorgfältige, empirische Wissenschaft.
      Die Empörung gegenüber Latzel hat derzeit allerdings, auch in der Version Hübner" noch viel zu sehr rein postulatorischen Charakter. Argumente wie beim Streit um die Sonne und um die Entstehung des Kosmos und darin der Erde, sind im Streit um die Homosexualität derzeit eher rar.
      Deshalb muss einem das Urteil im Blick auf Latzel nicht gefallen, aber es ist richtig, da eine andere Meinung als die Latzels biblisch nicht belegbar ist.
      Dass Latzel durch die gleiche Bibel, auf die er sich in Sachen Homosexualität beruft, zugleich in derBergpredigt auf die Feindesliebe verpflichtet wird und auf grenzenlose Lieber seiner Geschwister, das könnte man allenfalls innerkirchlich und dann auch juristisch gegen ihn vorbringen. M.E. mit nicht schlechten Aussichten auf Erfolg.
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      Jörg Hübner 10.06.2022 um 02:17
      Sehr geehrter Herr Miller,
      vielen Dank für Ihren ausführlichen Kommentar. Ich möchte Ihnen allerdings widersprechen: Schon Ihre Auslegung zu Röm 1,26f weist meines Erachtens in die falsche Richtung. Denn Paulus versucht in Röm 1,18-32 auszuführen, dass der Mensch ganz grundsätzlich das Gewahren der in der Schöpfung wirksamen Macht nicht beachtet und dies in der praktischen Lebensführung erhebliche Konsequenzen hat. Er verweist hier auf ungerechte Lebensverhältnisse, auf die Nicht-Beachtung des Lebensrechts der Geschöpfe, auf eine überbordende Weltweisheit, auf Mord, Verschlagenheit, Zank, Tücke, Prahlerei oder Ungehorsam gegenüber den Eltern. In diesem gesamten Lasterkatalog begegnet auch die Verurteilung der Homosexualität, wobei Paulus sich von religiös begründeten jüdischen Tradition spontanen Abscheus gegenüber der Lebensweise der hellenistischen Kultur leiten lässt. Der Skopus des Textabschnitts liegt also auf der Unentschuldbarkeit des Menschen gegenüber dem Schöpfer und nicht auf eine ausschließliche Verurteilung der Homosexualität. Hier wie auch in anderen Lasterkatalogen übernimmt Paulus Urteile seiner Umwelt, und diese Urteile sollen nur sein eigentliches theologisches Argument unterfüttern. Neben dieser andersartigen exegetischen Beurteilung haben Sie meines Erachtens die eigentlich bedeutsame hermeneutische Frage, die ich gestellt habe, nicht ausreichend beachtet. Und genau darauf scheint es mir sehr anzukommen. Gerne können wir uns dazu noch einmal persönlich austauschen, wenn Sie mit mir Kontakt aufnehmen wollen. Ich lade Sie dazu ein.
      Herzliche Grüße
      Jörg Hübner
  • user
    Hühn, Gerlinde 09.06.2022 um 07:20
    Ich bin voll und ganz Ihrer Meinung, lieber Herr Hübner!
    Herzliche Grüße
    Ihre
    G,. Hühn
    • user
      Jörg Hübner 10.06.2022 um 01:58
      Liebe Frau Hühn,
      vielen Dank für Ihre positive Reaktion.
      Herzliche Grüße aus Bad Boll
      Ihr
      Jörg Hübner
  • user
    Hansjörg Schrade 09.06.2022 um 05:57
    Prof. Hübner steht mit seiner Kritik am Latzel-Freispruch in einer ehrwürdigen Tradition. Schon vor 400 oder 500 Jahren haben Landeskirchen-Theologen sich beim Herzog über die zu guten (!) Haftbedingungen für die 15 Jahre lang auf dem Hohenwittlingen inhaftierten Wiedertäufer beschwert.
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    Joachim Elschner-Sedivy 09.06.2022 um 05:25
    Lieber Herr Prof. Hübner,
    ich frage mich eher, ob bei der Causa Latzel nicht ein ganz gravierender fundamentaler rechtstheoretischer Methodenfehler der Justiz vorliegt. Ich bin nicht qualifiziert, diese Frage zu beantworten, ich kann sie nur aufwerfen. Natürlich stelle ich mich als Theologe (übrigens katholisch, was hier freilich höchstens pro forma eine Rolle spielt) nur ungern auf den Standpunkt, dass die Theologie zu dieser Frage der Rechtsfindung nichts beizutragen hat. Aber ich denke, so ist es. So viel weiß ich nämlich immerhin: Der Tatbestand der Volksverhetzung wird im deutschen Recht nicht theologisch begründet. Und das ist gut so. Wozu also überhaupt die Bestellung dieser biblischen Gutachten? Dieses Vorgehen halte ich schon im Gesamtansatz für zutiefst absurd. Auch aus Perspektive der Gutachter wäre aus meiner Sicht einzuwenden: Theologie erfüllt ihre Aufgabe in einem grundlegend anderen Segment des gesellschaftlichen Lebens, entschieden nicht in dem der Rechtsfindung. Zu dieser Einsicht muss ich meines Erachtens gar nicht erst umständlich Jesus bemühen, der gesagt hat: „Richtet nicht“. Das Gericht scheint mir hier auf eigenartige Weise seine Maßstäbe verloren zu haben. Ich lasse mich gerne mit substanziellen Argumenten eines Besseren belehren.
    Joachim Elschner-Sedivy, München
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      Jörg Hübner 10.06.2022 um 02:01
      Lieber Herr Elschner-Sedivy,
      vielen Dank für diesen sehr interessanten Kommentar, den ich nun einem Juristen zur Verfügung stellen werde. Ihr meines Erachtens weiterführender Kommentar öffnet eine ganz andere "Flanke" in diesem Gerichtsverfahren, der es nachzugehen, es sich meines Erachtens lohnen würde.
      Herzliche Grüße
      Jörg Hübner
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