Ein „Plan B“ für die Zeit in und nach der Corona-Krise

© Parkstudio

„Wir werden uns in den nächsten Monaten viel verzeihen müssen!“ Das sagte nicht eine Predigerin oder ein Prediger. Das ist auch keine Auslegung eines biblischen Wortes. Nein. Das sagte – für mich überraschend – Bundesgesundheitsminister Jens Spahn im April 2020, als die erste Corona-Welle durchs Land raste, bundesweit eine große Verunsicherung auslöste und auch uns hier in Bad Boll in Atem hielt. Ich habe Jens Spahn damals so verstanden: Wir wissen nicht, ob die konkreten Entscheidungen richtig sind.

„Wir werden uns in den nächsten Monaten viel verzeihen müssen!“  Mir kommt es so vor, als wenn diejenigen, die die biblischen Jahreslosungen zwei Jahre vorher festlegen, eine prophetische Ahnung gehabt hätten:

„Werdet barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist.“ (Lukas 6, 36)

Wir werden uns auch in den nächsten Monaten viel verzeihen müssen. In der großen Politik und im kleinen Bad Boll. Wir als Direktion empfehlen den Studienleitenden, Präsenzveranstaltungen und -tagungen bis zu den Osterferien – besser noch bis zu den Pfingstferien – schon jetzt abzusagen bzw. in digitaler Form durchzuführen. Und ich weiß natürlich nicht, ob diese Entscheidung wirklich passend ist. Mit allen Mitteln setzen wir auf neue Tagungsformate und regen die Einführung neuer digitaler Techniken an. Und ich weiß nicht, ob diese Investition auch noch in einem Jahr von allen als lohnend betrachtet wird. Wir fordern den Einsatz aller Kolleginnen und Kollegen ein, und ich weiß nicht, ob sie sich damit nur unnötig abmühen.

„Werdet barmherzig!“, ruft uns Jesus zu.

Wir alle besuchen in diesen Monaten Menschen und nehmen Kontakt auf, und wir wissen nicht, ob wir damit zum Virusträger werden. Und wir unterlassen Besuche und Begegnungen, und wir können nicht vorhersagen, ob nicht gerade dieser Kontakt der letzte gewesen wäre.

„Werdet barmherzig!“, ruft uns Jesus zu.

Was für eine belebende Kraft geht doch von dieser Aufforderung aus! Wir machen alle Fehler. Daran ist nichts zu ändern. Aber es geht um die Frage, wie wir damit umgehen: Hauen wir uns die Fehler gegenseitig um die Ohren, um uns kleiner zu machen? Oder gehen wir gnädig miteinander um? Legen wir einander auf unsere Fehler fest? Oder verstehen wir uns gegenseitig so, dass wir mehr sind, als unsere Taten und Untaten?

Ich meine: Diese Aufforderung ist in diesen Tagen und Monaten Gold wert. Denn wir leben nicht mehr in einer Risikogesellschaft, wie es Ulrich Beck in den 1980er Jahren zum Ausdruck brachte. Damit bin ich noch groß geworden. Wir leben nun aber in einer Krisengesellschaft. Hartmut Rosa bringt es auf den Punkt: Diese Welt steht individuell und kollektiv vor dem Burnout. 

„Werdet barmherzig!“, ruft uns Jesus zu.

Im griechischen Urtext des Lukasevangeliums wird in diesem Vers ein Verb genutzt, das am besten mit „Habt Mitleid miteinander!“ zu übersetzen ist. Also: Leidet mit denen, die unsicher ihre Wege gehen, Entscheidungen treffen, sich manche Ungereimtheiten einfallen lassen und manchmal auch nicht wissen, was sie da sagen. Einfach nur: Leidet mit ihnen!

Und dann folgt die eigentliche Spitze, der für mich alles entscheidende Nachsatz, die Motivation:

„Werdet barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist.“

Ich verstehe das so: Hier geht es um einen Energieschub oder eine Krafteinheit, die uns quasi wie ein „Vitamin B“ (wie Barmherzigkeit) von außen zukommt. Gott leidet mit unseren Sorgen und Widersprüchlichkeiten. Er leidet mit uns in dem Menschen, der unser Menschenbruder wurde: Jesus Christus. Deswegen wird im Vers der Jahreslosung von Gottes Mitleiden im Perfekt gesprochen. Hier, bei diesem Menschen im Stall, im Haus des reichen Kapitalisten Zachäus, in den verzweifelten Rufen der Ausgestoßenen, in der Heilung der Kranken, ist es schon „perfekt“. Die „Vitamin-B-Gabe“ ist schon erfolgt. Und sie hat Wirkung gezeigt. Deswegen gilt uns der Ruf im Futur:

„Werdet barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist.“

Weil sein Mitleiden schon „perfekt“ ist, dürfen und können wir zuversichtlich, aber auch beherzt, den „Vorwärts-Gang“ einlegen und mit dem „Plan B“ beginnen.

Nur: Wie sieht nun konkret der „Plan B“ für die Zeit in und nach der Corona-Krise aus? Vor kurzem hatte der thüringische Ministerpräsident Ramelow offen in einer Talkrunde zugegeben: Mit seiner damaligen Öffnungsforderung habe er unrecht gehabt und möglicherweise vielen Menschen Leid angetan. Die Zuhörenden fielen nicht über ihn her, sondern zeigten Verständnis. Mich hat beides sehr beeindruckt. Das ist der gelebte „Plan B“!

Ich meine, wir brauchen in dieser Krisengesellschaft kurz vor dem Burnout mehr öffentliche Erzählungen und Berichte darüber, wo der „Plan B“ konkret wird. Nur so können wir den gesellschaftlichen Zusammenhalt leben.

Wenn Sie als Leserin oder Leser etwas davon erfahren haben, schreiben Sie mir! Ich freue mich über Ihren Kommentar und Ihre Erzählung!

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Bemerkungen :

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    Marion Geitz 09.02.2021 um 08:35
    Ein gutes Mittel gegen Burnout heißt ‚Kultur‘. Wie sehr das Herz und der Sinn geöffnet werden, wenn wir ein gutes Buch lesen, unsere Lieblingsmusik hören oder bei einem Museums- oder Theaterbesuch auf neue Gedanken gebracht werden. Letzteres ist nun auch schon seit 100 Tagen nicht mehr möglich. Das schmerzt. Natürlich auch für diejenigen, die davon und dafür Leben …
    Kürzlich habe ich eine Theaterinszenierung in einem Live-Stream erlebt. Das Stück wurde von einer freien Theatergruppe in aufwändiger Recherche- und Probezeit über ein halbes Jahr hinweg erarbeitet. Es hätte im November 2020 Premiere feiern sollen. Dann kam der Lockdown und das Warten. Zufällig traf der Regisseur der Theatergruppe dann auf ein kleines, motivierts Filmteam und sie entwickelten einen Plan B. Es entstand ein Kunstwerk, das über die eigentliche Theaterinszenierung hinaus geht. Die Schauspielerinnen lernten mit den Kameras (und damit mit den Zuschauern) zu interagieren. Bei der Premiere über Live-Stream saßen ca. 200 Zuschauer_Innen vor den Bildschirmen. Viele davon hätten nicht zu einer vor-Ort-Premiere anreisen können. Abgesehen davon, dass bei einer vor-Ort-Premiere aufgrund der Hygiene-Bestimmungen nur 35 Zuschauer hätten dabei sein können. Über einen Chat hatten die Zuschauer_Innen nun an ihren Computern sogar die Möglichkeit, sich vor, während und nach der Inszenierung auszutauschen. Für viele ein weiterer Mehrwert.
    Natürlich kann und soll ein solches Digitalformat ein Theatererlebnis live, vor Ort nicht ersetzen, aber es regt dazu an, neue Wege auszuprobieren. Vielleicht gibt es ja in Zukunft Hybrid-Formate, die dann viel mehr Menschen den Zugang zu Kultur ermöglichen und gut gegen den kollektiven Burnout wirken …
    • user
      Jörg Hübner 15.02.2021 um 02:20
      Liebe Frau Geitz,

      vielen Dank für Ihren Kommentar. Ja, genau, um solch ein Experimentieren und Suchen geht es in dem Plan B. Und da darf gerne auch einmal etwas daneben gehen, nicht funktionieren und nicht ankommen.
      Wir alle befinden uns gerade in einer Situation, in der wir neue "Trampelpfade" der Kommunikation ausprobieren. Manche dieser Pfade werden und dürfen wieder zuwachsen, andere Pfade werden zu wunderbaren Straßen der Diskussion und des Diskurses werden. Da werden wir uns alle viel zu verzeihen haben, wenn es einmal nicht gelingt. Das ist aber so viel besser, als im Lamentieren und im Abwarten zu verharren.
      Wir werden nach Corona verändert in die Zukunft gehen. Auch hier in der Akademie: Hybride Formate werden, so meine Vermutung, später neben den analogen Tagungen zum Normalstandard gehören. Wir bereiten im Haus gerade alles darauf vor, schaffen Technik an, schulen die Kolleg_innen, finden neue und junge Mitarbeitende mit anderen Kompetenzen und versuchen uns an der Zukunft. Gerade haben wir einen neuen Kollegen begrüßen können, der mit Engagement das Thema "Bewegtbild" angeht.

      Ich würde mich freuen, wenn ich Sie einmal bei uns begrüßen dürfte – analog oder digital.

      Herzliche Grüße

      Jörg Hübner