Soziale Gerechtigkeit nichts als barer Unsinn?

Ein theologischer Impuls über den hohen Wert der sozialen Gerechtigkeit

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„Der Ausdruck ‚soziale Gerechtigkeit’ gehört für mich nicht in die Kategorie des Irrtums, sondern in die des Unsinns wie der Ausdruck ‚ein moralischer Stein‘.“ 

Ein starkes und geradezu deftiges Zitat. Es klingt so, als wenn es unserer, auf Konkurrenz und Wettbewerb getrimmten Zeit entstammt: Soziale Gerechtigkeit – nicht nur ein gedanklicher Fehltritt, Irrtum also, sondern vollkommene Verfehlung, Unsinn also! Soziale Gerechtigkeit – das war vielleicht einmal. In der grauen Vorzeit, als unsere Vorfahren noch von der „Sozialen Marktwirtschaft“ sprachen und dieses Ordnungssystem als kostbare Errungenschaft und Erfolgsmodell der Zeit nach 1945 pflegten. 

Aber heute? Heute muss sich alles agil, effizient, geschmeidig und angepasst abspielen. Jede und jeder zeigt sein Profil. Offenbart, was er kann und schärft sein USP, seine Unique Selling Proposition, sein Markenzeichen, was sie oder ihn von der Konkurrenz abhebt. Und so etwas wie soziale Gerechtigkeit? Dieser Wert scheint heute sein USP verloren zu haben. Also: Soziale Gerechtigkeit nichts als barer Unsinn? 

Das deftige Zitat stammt allerdings nicht aus unseren Jahren, sondern ist 50 Jahre alt. Der Ökonom Friedrich August von Hayek prägte es in den 1970er Jahren. Für ihn funktioniert der Markt anonym. Er läuft wie von selbst. Er darf durch nichts gestört werden. Er verträgt nur Anreize. Dann gibt er sein Bestes. Soziale Gerechtigkeit als tragender Wert blockiert ihn nur. Solche Vorstellungen wie die von Hayek haben Schule gemacht. Neoliberale Urteile prägen bis heute unsere Haltung. Bis hinein in unsere tiefste Überzeugung bestimmen sie unser Denken, so dass jede Anfrage nach dem sozial Gerechten mit Abwehr bedient wird. Als eine Frage, die man bedenken kann, wenn die „normalen“ Herausforderungen bearbeitet sind. 

Sehen wir nicht auch, wohin solch eine Haltung führt? Wird uns aber nicht auch bewusst, was mit solch einem Denken auf der Strecke bleibt? Hat uns die Corona-Krise nicht auch gezeigt, dass diese Positionierung uns in den globalen Lockdown treibt? 

In christlicher Perspektive müssen wir diese Fragen stellen. Wir dürfen nicht lockerlassen, die Suche nach dem, was sozial gerecht ist, zum Thema unseres gesellschaftlichen Engagements zu machen. Unser Urgrund, das biblische Wort, fordert uns dazu auf. Nicht irgendeine Stelle der Bibel, sondern altbekannte und vertraute Worte. Der Dekalog zum Beispiel. Diese fundamentale Rechtsordnung in Form der Zehn Gebote, die unsere Grundhaltung sein sollte, entstand in einer Zeit, als Assyrien und Ägypten wirtschaftlich lahmten und Israel aufblühte. Es kam zu einer enormen Zusammenballung von Macht und Kapital in Jerusalem und Juda. Die sozialen Gegensätze spalteten die Gesellschaft. Der Dekalog ermahnt die erwachsenen Männer in dieser Zeit, sich endlich an die übliche Rechtspraxis zu halten. Keinen zu betrügen. Die Eltern nicht in Stich zu lassen. Den Feiertag unangetastet zu lassen. Jedem und jeder das Nötige zu geben. Das Begehren nach noch mehr Besitz auf Kosten anderer endlich sein zu lassen. Denn: Gott hat doch jedem Menschen die Freiheit gegeben. Nicht nur den Besitzenden und Wohlhabenden. 

Der Dekalog ist ein wunderbares Wort für das, was soziale Gerechtigkeit ist und was sie bewirkt: sozialen Zusammenhalt nämlich. Wer ein Gemeinwesen der sozialen Gerechtigkeit beraubt, der riskiert Gewaltiges. Er zerstört den Zusammenhalt. Die Bereitschaft, gemeinsame Lösungen für anstehende Herausforderungen zu suchen. Er setzt mit dem sozialen Zusammenhalt auch die Existenz des Gemeinwesens aufs Spiel. Wer die Suche nach dem, was sozial gerecht ist, aufgibt, der spielt mit dem Feuer. Und dieses Feuer lässt sich dann nicht mehr so leicht löschen. Und derjenige verscherbelt das göttliche Geschenk, das einem jeden Menschen gilt: die kostbare, kreative und durch nichts zu ersetzende Kraft der Freiheit nämlich. 

Aber auch Philosophen und Ökonomen haben dies erkannt. Teilweise wurden sie dabei von christlichen Impulsen inspiriert. Aber nicht nur. Manchmal waren sie einfach nur nachdenkliche Menschen. Wie John Rawls. In den späten 1970er Jahren legte er – quasi als Antwort auf den purliberalen Geist eines von Hayek – seine Gerechtigkeitstheorie vor. Danach bezieht sich Gerechtigkeit auf die Grundgüter des Lebens. Auf Freiheiten, Wohlstand, Einkommen und Selbstachtung. So jedenfalls müsste es jede und jeder in einem „Schleier des Nichtwissens“ um die realen Gegebenheiten des Lebens sehen. Wenn er oder sie diesen „Schleier des Nichtwissens“ ablegt, müsse sie oder er jedoch folgende Regel anerkennen, wenn er oder sie Mensch bleiben will: Eine gerechte Verteilung der Grundgüter des Lebens liegt dann vor, wenn bei Veränderungen die am schlechtesten Gestellten die größten Vorteile erringen können. Eine starke Formulierung! Veränderungen soll und muss es geben, aber nicht so, dass die Eh-schon-Verlierer die Ewig-Verlierenden bleiben. Um der Freiheit aller willen. 

Der indische Entwicklungsökonom Amartya Sen hat in den 1990er Jahren diese Einsicht noch weiter zugespitzt und sich dabei ausdrücklich auf John Rawls bezogen: Grundgüter für alle, ja. Im wirklichen Leben mit unterschiedlichen Ausstattungen und Gewinnen besonders auch für die Verlierer, ja. Aber: Was hat der oder die Betroffene davon, wenn sie oder er diese Grundgüter nicht nutzen kann, die ihm oder ihr bereitgestellt werden? Ist das schon Gerechtigkeit, den Menschen nach dem Prinzip Vogel-friss-oder-stirb alles vorzusetzen? Amartya Sen meinte: Ein Behinderter oder eine Behinderte kann über einen größeren Korb an Gütern verfügen und dennoch eine geringere Chance haben, am normalen Leben teilzunehmen als ein Mensch ohne jede Behinderung. Es kommt also nicht nur auf die Grundgüter an, die jedem und jeder zustehen, sondern auch auf die Möglichkeiten, mit ihnen etwas anzufangen. Amartya Sen spricht hier von der notwendigen Verteilung der „Ver-wirklichungschancen“, damit die freiheitliche Gesellschaft stabil bleibt. Die verborgenen, schlummernden Fähigkeiten des konkreten Menschen sind anzusprechen, wenn es sozial gerecht zugehen soll. 

Gerechtigkeits-Theorie nach John Rawls. Capability-Approach nach Amarty Sen. Das alles klingt kompliziert. Zugegeben. Aber hier haben sich kluge Menschen viele Gedanken gemacht. Sie wollten und wollen soziale Gerechtigkeit nicht dem Irrtum preisgeben oder sogar dem Urteil „Unsinn“ anheimgeben. Sie wollten und wollen der Freiheit aller Menschen Rechnung tragen. Ich finde diese Überlegungen ungeheuer faszinierend. Sie kommen doch dem Dekalog ganz nahe: Ich bin der Herr, dein Gott, der Dich aus Ägyptenland geführt hat. Die zehn Gebote sind Angebote der Freiheit. Sie wollen soziale Gerechtigkeit erhalten, um des sozialen Zusammenhalts willen. 

Ich meine, wir brauchen gerade heute wieder solche engagierten Gerechtigkeits-Sucher. Wir brauchen Frauen und Männer, die die Angebote der Freiheit ausbuchstabieren helfen. Eine ewige Lösung gibt es nicht. Wohl aber immer wieder neu maßgeschneiderte Lösungen. Ohne einen gesellschaftlichen Diskurs wird das nicht funktionieren. Als Akademie stehen wir dafür ein: als innovative Kraft auf der Suche nach einer demokratischen, sozialen und zukunftsfähigen Gesellschaft.  

Denn es ist sozial nicht gerecht, wenn auch unter uns die Reichtumsschere immer weiter auseinandergeht und die sogenannte Mittelschicht nach unten hin verschoben wird. Es ist sozial nicht ge-recht, wenn Familien verlieren. Es ist sozial nicht gerecht, wenn hierzulande ein T-Shirt zwei Euro kostet und anderswo dafür Hungerlöhne gezahlt werden. Es ist sozial nicht gerecht, wenn wir hier-zulande so leben, als wenn wir mehr als zwei Erden zur Verfügung hätten, aber nicht beachten, was ein solcher Lebensstil für soziale Auswirkungen in den von der Klimakatstrophe betroffenen Staaten unserer Welt hat. Und, und, und.

Ja, die Weisungen des Dekalogs haben gerade heute nichts an Kraft eingebüßt. Aber auch nicht an der Zuversicht, dass wir den sozialen Zusammenhalt herstellen können, wenn wir es denn nur wollen. Soziale Gerechtigkeit ist kein Irrtum, geschweige denn ein Unsinn, sondern die konsequente Haltung derjenigen, die die Freiheit aller Menschen erhalten wollen. Für uns Christinnen und Christen ist diese Haltung eine wunderbare Verpflichtung.