Stadt oder Land? … oder beides?

Was uns in unseren „Zukunftsräumen“ wirklich wichtig ist

Wir leben auf einem Planeten der Städte. Das WBGU-Gutachten „Der Umzug der Menschheit – Die transformative Kraft der Städte“ hat ihre magnetische Kraft eindrucksvoll belegt: drei Viertel der Weltbevölkerung wohnt in urbanen Räumen.

Städte als Inkubatoren für Fortschritt

Auch deutschlandweit leben 31% in Großstädten (> 100.000 Einwohner) und weitere 27% in mittelgroßen Städten (20.000 bis 100.000 Einwohner). Die Gründe für die Attraktivität der Städte liegen auf der Hand: sie bieten in hoher Dichte einfach alles: Arbeitsplätze, effiziente Mobilitätsstrukturen, vielfältige Bildungs-, Freizeit- und Kulturangebote. Zudem gelten sie als DER Motor für Austausch, Kreativität und Innovation. Sie sind Inkubatoren für den gesellschaftlichen und technischen Fortschritt.

Trendwende „Landliebe“?

Gleichzeitig häufen sich in Städten aber die Problemlagen. Schlagzeilen wie „Stadtluft macht arm“ und „Stadtluft macht krank“ sind an der Tagesordnung. Die Sehnsucht nach Alternativen zur dichten und hektischen Lebensweise wächst. Zeitschriften wie die „Landliebe“ erfreuen sich zunehmender Beliebtheit. Zudem hat die Corona-Pandemie die Vorzüge ländlicher Räume praktisch erfahrbar gemacht. Dörfer und Kleinstädte bieten viele Möglichkeiten für ein „Gutes Leben“, das den Menschen und seine Bedürfnisse in den Mittelpunkt stellt. Dem Baukulturbericht zufolge möchten 45% der Deutschen am liebsten in einer ländlichen Gemeinde wohnen. Für nur 22% stellt die Großstadt die „Verheißung“ dar.

Stadt | Land: Wo liegt unser Zukunftsraum?

Wohin entwickeln sich die Lebensstile und Lebensräume in Deutschland? Ist die Zukunft eher städtisch oder eher ländlich? Ob ein Mensch lieber auf dem Land oder in der Stadt lebt, hängt nicht zuletzt von persönlichen Präferenzen ab. Gleichzeitig jedoch entfalten transformative Kräfte ihre Wirksamkeit, die uns neue Chancen eröffnen: die Digitalisierung und innovative Formen der Mobilität lassen Stadt und Land zusammenwachsen; sie machen ein Zusammenrücken von Wohnen und Arbeiten möglich. Die Arbeit selbst wird multi-mobil und multi-lokal. Dadurch eröffnen sich Möglichkeitsräume.

R/urbane Zukünfte

Es gründen sich immer mehr Initiativen, die ganz selbstverständlich Mischformen aus den Stadt-Land-Welten produzieren: In der Stadt wird gegärtnert, auf Dächern entstehen grüne Oasen, auf dem Land wird in Co-Working-Spaces gearbeitet, Kulturfabriken holen urbanen Flair ins Dorf und Wissens- und Kreativberufe lassen sich dank der Digitalisierung auch in umgebauten Scheunen ausüben. Die Beispiele für die kreative Verbindung von ländlichen und städtischen Lebensweisen sind zahlreich. Allerorts entstehen r/urbane Räume, die ein rurales Leben in der Stadt und ein urbanes Leben auf dem Land realisieren. Es scheint eine Sehnsucht nach der Gleichzeitigkeit von beidem zu geben.   

Das „Beste“ aus Stadt und Land

Aber was ist dabei wirklich wichtig? Wonach sehnen sich die Menschen in diesen Zeiten? Welche Eigenschaften sollen der Wohnstandort, das Wohnumfeld und das Arbeitsleben aufweisen? Die r/urbanen Initiativen scheinen ihren Raum so zu organisieren, dass sie „das Beste“ aus Stadt und Land miteinander kombinieren.

Während der Tagung „Stadt Ꚙ Land – Die Zukunft ist r/urban?“, die am 2. Dezember 2020 als Online-Veranstaltung in Kooperation mit der Wüstenrot-Stiftung stattgefunden hat, haben die Teilnehmenden in einer Wortwolke festgehalten, was ihnen wichtig ist: Natur, Gemeinschaft, gute Nachbarschaft, Kultur und Infrastruktur stehen hierbei an erster Stelle.

Was ist in Ihrem „Zukunftsraum“ wichtig?

Wie sieht Ihr persönlicher Wunschraum aus? Welche Standortfaktoren sind Ihnen im Alltag wichtig? Was brauchen Sie, um Ihre Vision von Lebensqualität und einer gelungenen Verbindung von Wohnen und Arbeiten zu realisieren? Und funktioniert das am besten in der Stadt oder auf dem Land?

Wir freuen uns über Ihre Anregungen und Kommentare.

PD Dr. Anja Reichert-Schick ist seit 2018 Studienleiterin im Themenbereich „Gesellschaft, Politik, Staat“ an der Evangelischen Akademie Bad Boll. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind „Stadtentwicklung, Ländliche Räume und Wohnungsbau".

Kommentare und Antworten

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Bemerkungen :

  • user
    Benjamin Ahmose 24.06.2021 um 12:35
    Vielen Dank für die Möglichkeit zu diesem interessanten Thema. Ja, wie sieht mein persönlicher Wunschraum aus? Wo möchte ich gerne leben? Im Alter von 60 Jahren muss ich mir eingestehen, dass Wunschräume – wenn, dann – eher unbewusst bislang für mich eine Rolle gespielt haben.

    Die bisherigen immerhin etwa 25 Umzüge ergaben sich aufgrund der Begleitumstände. Ausbildung. Arbeit. Da gab es nicht viele Möglichkeiten einen Wunsch aufkommen zu lassen oder verwirklichen zu können. Verblüffend war ein Ereignis in meinem Leben, als ich von einer Zeitarbeitsfirma in eine Stadt geschickt wurde, in der ich kein Zimmer fand und etwa fünf Monate im Freien verbrachte. Es war eine Sommerzeit voller persönlicher Energie.

    Die Wunschwohnräume erscheinen mir beim Menschen in der Weise, dass sie sich einem innewohnenden Drang anpassen, nämlich dem Drang oder der Suche nach Glück. Der Vorstellung über dem, was ich als Glück empfinde, passt sich unbewusst der Wunschwohnraum an. Wie Menschen glücklich werden, können die Neurowissenschaften sagen. Dort, wo ich das Glück vermute, dort will ich leben.

    Da wird projiziert. Die persönliche Vorstellung von Glück wird auf bestimmte Orte, auf Wunschräume übertragen. Wir sind verführt zu glauben Lokalitäten könnten uns glücklich machen. Da sind Enttäuschungen möglich.

    Neurowissenschaften helfen uns zu verstehen, was Homo sapiens als Glück empfindet. Der Lebensraum spielt eine wichtige aber nicht die entscheidende Rolle. Der Mensch will und tut alles für – und das müssten jetzt alle für sich bestätigen können – gelingende zwischenmenschliche Beziehungen. Dort vermutet jeder Mensch, den Neurowissenschaften zufolge, das Glück. Gelingende zwischenmenschliche Beziehungen. Ich bestätige diese Erkenntnis für mich persönlich. Und diese Suche nach Glück prägt auch die Suche nach einer Wohnstätte. Wir alle sind süchtig nach Beziehungen, nach gelingenden Beziehungen.

    Wo wir leben wollen, da suchen, vermuten und wollen wir Beziehungen auf Augenhöhe. Wir wollen einen Wohnraum mit der Chance von wechselseitigem verstehen von Motiven und Absichten zu einer anderen Person. Wir sehnen uns danach einen Menschen zu sehen und von ihm gesehen zu werden. Wir wollen gemeinsam mit einer anderen Person Entscheidungen treffen. Intuitiv suchen wir den Zustand uns auf ein anderes Individuum verlassen zu können und erwarten, dass sich dieses Individuum auch auf uns verlassen wird. Das ist unser höchstes Glück, abgesehen von Schlaf und Ruhepausen, die für unsere Kreativität und Aufnahmefähigkeit notwendig sind.

    Martin Korte, *1964, Hirnforscher der Universität Braunschweig sagt es so: »Menschliche Gehirne sind soziale Gehirne, die sich dafür belohnen – mit den Belohnungssystemen des Gehirns – wenn sie in Übereinstimmung mit anderen Menschen Entscheidungen treffen.«

    Weitere weniger ausschlaggebende aber dennoch wertvolle Kriterien sind: Wohnraum finden, Nahrung finden, Beschäftigung finden, angenehme Umwelt- und Klimabedingungen.

    Und doch suchen wir alle auch das Glück in ganz anderen Bereichen. Bei dieser anderen Suche werden wir untereinander schnell zu Konkurrenten und machen uns gegenseitig das Leben schwer und unsere Wunschwohnstätte manchmal unerträglich. Wie konnte es dazu kommen.

    Evolution

    Die Evolution des Menschen hilft uns die Bedeutung von Stadt und Land als Lebensorte einzuschätzen. Welche Rolle spielte das Land für die Vorfahren von uns? Welche Rolle spielte die Stadt für die Vorfahren von uns? Gibt es noch andere Faktoren, die für die Auswahl des Lebensraumes wichtig sind? Warum kooperieren wir nicht immer?

    Schauen wir uns einige Ereignisse während der Evolution an, um herauszufinden, welche Punkte wir bei der Auswahl des geeigneten Wohnraumes beachten sollten:

    4.000

    Vor etwa 4.000 Millionen Jahren gab es uns in Form des ersten Lebens im Meer. Da ist also weder Stadt noch Land. Da ist nur Wasser. Wir müssten eine Vorliebe für Wasser haben. Sollte der Wunschwohnraum in der Nähe von Wasser liegen?

    2.400

    Vor etwa 2.400 Millionen Jahren veränderte sich die Luft, mit der alle Lebewesen an der Wasseroberfläche in Berührung kommen. Sie wurde erstmals erfüllt von Sauerstoff. Das hatte einen großen Nachteil: Keines der damaligen Lebewesen konnte mit Sauerstoff etwas anfangen. Sauerstoff war für Archaeen und Baktierien (Eukaryonten gab es noch nicht) giftig. Es gibt Überlegungen, dass in dieser Zeit der Schlaf »erfunden« wurde. Denn nur im Schlaf gelingt es heutigen Lebewesen aggressive Sauerstoffverbindungen zu neutralisieren. Experimente mit Insekten oder Säugetieren zeigen, wenn diese Tiere am Schlafen gehindert werden, dann sterben sie. Im Darm von Fruchtfliegen konnten als Todesursache aggressive Sauerstoffverbindungen nachgewiesen werden. Wir brauchen einen tiefen Schlaf. Wir müssen aggressive Sauerstoffverbindungen im Schlaf neutralisieren. Unser Wunschwohnraum muss das liefern. Ungestörte Nachtruhe, die neben der Sauerstoffneutralisation auch für unsere Kreativität notwendig ist.

    460

    Vor 460 Millionen Jahren lebte das erste Wirbeltier. Unsere Forscher haben es Sacabambaspis genannt. Es schwamm immer noch im Meer als kieferloser Fisch. Hatte es schon Hormone, die es für »gelingende Beziehungen« belohnt haben? Alle Wirbeltiere (von heute) haben einen Hippocampus. Dort werden Belohnungshormone produziert und diese Hormone entscheiden darüber, was uns gefällt, wo wir gerne wohnen wollen, was uns motiviert. Der Wohnort sollte ihre Ausschüttung begünstigen.

    388

    Vor etwa 388 Millionen Jahren war der Landgang der Wirbeltiere. Jetzt beginnt der Wohnraum Land. Das Land ist seitdem für uns passender als die Wasserwelt.

    250

    Vor etwa 250 Millionen Jahren gab es die ersten Blütenpflanzen. Vor 235 die ersten Dinosaurier. Auf ihrer Ernährungsliste stehen auch Vorfahren von uns. Das macht das offene Landleben zu einer Gefahr.

    »Wo aber Gefahr ist, wächst Das Rettende auch«, schreibt 1803 der Dichter Friedrich Hölderlin. Und so ist es damals auch gekommen.

    200

    Die größte Artenvielfalt von Bäumen finden wir in der Evolutionsgeschichte vor 200 Millionen Jahren. Da ist etwas Rettendes für uns gewachsen, der Wald. Er spendete uns Schutz und Sicherheit. Wir lieben Bäume, auch heute noch. Vergessen wir die Bäume nicht in der Umgebung unseres Wunschwohnraumes. Nicht direkt am Haus. Dort richtet ein Baum eher Schaden an, wenn er nicht ständig zurückgeschnitten wird und das tut ihm nicht unbedingt gut. Aber in der Nähe beruhigen Bäume unser Gemüt.

    195

    Vor 195 Millionen Jahren das erste Säugetier, Hadrocodium. Es war – den Dinosauriern wegen? – nur daumengroß und lebte auf den verzweigten Bäumen. Das Säugen des Nachwuchses ist gekoppelt mit sehr viel Vertrauen. Das zu säugende Baby fordert das säugende Muttertier heraus. Diese Zuwendung wurde evolutionär, biologisch mit dem Hormon Oxytocin belohnt. Oxytocin wirkt wie eine Minidroge. Die Mutter und das Baby sind beide danach süchtig. Die männlichen Tiere aber auch. Alle wollen die Ausschüttung von Oxytocin. Das Baby schreit, wenn es Hunger verspürt und Oxytocin fehlt. Die Mutter wird unruhig, wenn es das Baby schreien hört oder längere Zeit nicht bei ihm war und Oxytocin fehlt. Bei der Stillung wird bei beiden das Vertrauen festigende Oxytocin ausgeschüttet. Wir brauchen einen Wohnort, an dem wir zu anderen Menschen, zum Nachbarn, Vertrauen aufbauen können. Wir wollen vertrauensvolle Nachbarn. Wir suchen die Ausschüttung von Oxytocin.

    66

    Vor 66 Millionen Jahren entstehen erstmals Jahreszeiten. Wenn der Wald unser Beschützer war, dann sind die Jahreszeiten unsere Erlöser vom »bösen« Dinosaurier-Drachen. Denn die Dinosaurier sterben bis auf die Vorfahren der Vögel und der Krokodile, während dieser Klimaänderung, wieder aus. Wir können uns mit unserer suchtgeförderten Kooperation auf heiße und auf kalte Jahreszeiten einstellen. Wir werden angefangen haben Nester zu bauen und Vorräte anzulegen, um während kühlerer Zeiten überleben zu können. Einer hilft der anderen. Einfach so. Aus der Sucht heraus. Auch unser Wunsch-Wohnort sollte beheizbar sein und eine Vorratskammer, einen Kühlschrank haben. Dort wollen wir kooperativ leben.

    60

    Vor 60 Millionen Jahren werden die Blütenpflanzen dominant. Wir leben zu dieser Zeit mit der blauen und den vielen bunten Blumen. Da ist zum Beispiel Purgatorius, ein möglicher Vorfahre von uns. Er lebte immer noch im heimeligen Wald. Purgatorius ist ein Obst- und Allesfresser. Er ist gegenüber Hadrocodium gewachsen und mittlerweile so groß ist, wie ein Eichhörnchen und sieht auch so ähnlich aus.

    37

    Ohne die für uns gefährlichen Dinosaurier geht das Wachstum weiter: Unser nächster hier betrachteter Vorfahre heißt Necrolemur. Er wird vor 37 Millionen Jahren so groß wie eine Katze und hat einen langen Schwanz. Wer mit einem Haustier zusammen wohnen möchte, kann sich daran erinnern, dass wir einmal genauso groß gewesen waren. Mit Haustieren lässt sich Kooperation wunderbar trainieren und macht uns zu Kooperationsmeistern. Lassen wir also Raum für ein Haustier.

    17

    Vor 17 Millionen Jahren lebt Proconsul. Er ist bereits schwanzlos, wohnt aber immer noch auf Bäumen im Wald. Er entdeckt nun auch andere Lebensräume. Proconsul kommt wieder in offenen Landschaften – also am Boden – zurecht. 150 cm3 erreicht das Volumen seines Gehirns (heute haben wir etwa 1250 cm3). Proconsul wird immerhin schon 20 bis 80 Kilo schwer. Seine Nahrung besteht vorwiegend aus Früchten.

    Halten wir fest:

    Unsere natürlichen Wunsch- oder Lebensräume sind für etwa 3.600 Millionen Jahre das Meer als erster und längster aller unserer Wohnorte. Dann betreten wir das noch baumlose Land und leben vermutlich auch in offenen Gebieten. Das ist solange gefahrlos, solange wir keine Fressfeinde vorfinden. Spätestens vor etwa 200 Millionen Jahren sind wir Fressfeinden ausgeliefert und der Wald beginnt unsere Heimat und unser Schutz zu werden. Erst vor etwa 17 Millionen Jahren kommen gelegentlich wieder offene baumlose Landschaften dazu. Unser Wunschwohnort sollte einen gewissen Baumbestand haben.

    10-5 Menschwerdung

    Vor 10 bis 5 Millionen bilden sich die Merkmale aus, die uns heute von den anderen Lebewesen unterscheiden. Die sogenannte Hominisation beginnt, die Menschwerdung. Es entwickelt sich ein weißer Augapfel, mit dem eine Kommunikation über die Blickrichtung möglich wird. Außerdem entwickelt sich der aufrechte Gang (er ist vor 3,3 Millionen Jahren belegt). Im Hinblick auf unseren Wohnort, wäre es also sinnvoll Licht hereinzulassen, damit wir auch den Augapfel unseres Gegenübers sehen können. Die Decke sollte hoch genug sein, damit wir aufrecht herumlaufen können. Wir lieben Licht, den Überblick und Luft nach oben.

    Steile Felswände oder Baumgruppen

    Der bedeutende Paläoanthropologe Richard Leakey beschrieb das Sozialverhalten der Vorfahren des Menschen, die vor sieben Millionen Jahren lebten, wie folgt:

    Es „ … lebten die ersten Menschen wahrscheinlich wie Mantelpaviane. Rudel von um die 30 Individuen streiften damals in koordinierter Weise durch ein ausgedehntes Gelände und kehrten nachts zu ihren bevorzugten Schlafplätzen in steilen Felswänden oder Baumgruppen zurück. … .“

    Wer sich also vorstellen kann, in einer Wohngemeinschaft zu leben, der belebt eine lange Tradition neu. In dieser Tradition wird sein Zuhause eher als Schlafplatz genutzt. Tagsüber kann er oder sie durch die Umgebung streifen.

    3,3 Wir beginnen in Vergangenheit und Zukunft zu sehen

    Vor 3,3 Millionen Jahren fangen wir an zu »Denken«. Das zeigen uns Funde von Steinen aus dieser Zeit. Diese Steine ermöglichten uns nachweislich die Herstellung von Werkzeugen. Wir benutzten also ein Werkzeug, mit dem wir zu einem späteren Zeitpunkt ein anderes Werkzeug herstellen konnten. Das geht nur mit einer Vorstellung von einem Objekt, dass es noch gar nicht gibt. Wir fingen also an, tiefer in Vergangenheit und Zukunft zu denken als vermutlich die meisten anderen Lebewesen zu dieser Zeit. Heute versuchen wir sogar alle Zeiten dieser Welt, vom Urknall bis in die Unendlichkeit zu begreifen.

    Lassen wir also die Wände unseres Wohnraumes soweit frei, damit es möglich ist, wenigstens einen Kalender aufhängen zu können. Zeitgefühl kennzeichnet uns als Menschen.

    Nicht alles was denkbar ist, ist gut

    Mit diesem neu erworbenen Zeitbewusstsein fangen wir mit der Jagd größerer Tiere an. Auf zwei Beinen können wir solange hinter einer Beute herlaufen bis diese erschöpft zusammenbricht. Wir können die Beute im Gedächtnis behalten, auch dann, wenn sie im Gebüsch verschwunden ist, und immer wieder neu aufspüren. Doch das Fleisch dieser größeren Tiere ist eher eine ungewohnte Nahrung für uns. »Vorher« haben wir unsere essentiellen Aminosäuren und das lebensnotwendige Vitamin B12 hauptsächlich über den Verzehr von Insekten erhalten. Diese Nahrungsquelle kommt heute zwar vernünftigerweise in den Industrienationen langsam wieder in Mode. Doch die meisten älteren westlichen Menschen können sich den Verzehr von Insekten nicht vorstellen und schrecken mit Ekelwallungen zurück. Also nicht alles, was in einem Wunschwohnraum denkbar ist, sollten wir in die Tat umsetzen. Vieles was denkbar ist, führt uns in die Irre, gefährdet unsere Gesundheit.

    Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust
    (schrieb Goethe etwa 1770, „Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust, Die eine will sich von der andern trennen; Die eine hält, in derber Liebeslust, Sich an die Welt mit klammernden Organen; Die andere hebt gewaltsam sich vom Dust Zu den Gefilden hoher Ahnen.“

    Möglicherweise fangen mit dem »neuen« Denken, gemeint ist das Bewusstsein für Handlungen, Gegenstände, Beziehungen und Gefühlen in dunkler Vergangenheit oder in leuchtender Zukunft, also dieser neuen Verhaltenssteuerung (ich handele jetzt so und so, bewege mich in die und die Richtung, weil ich gestern…, oder damit ich morgen…) die ersten Missverständnisse an. Die zweite Seele, von der Goethe schreibt, wird vor etwa 3,3 Millionen Jahren mit der Entwicklung des zeitlichen Denkens im Herzen geboren. Diese Seele besteht aus den Vorstellungen von Leben in Vergangenheit oder Zukunft.

    Die beiden gleichermaßen dominantesten Verhaltenssteuerungen bewirken den Schlaf und die Suche nach gelingenden zwischenmenschlichen Beziehungen. Weitere Verhaltenssteuerungen lassen uns Nahrung suchen oder für uns angenehme Orte suchen. Um satt zu sein, suche ich mir etwas zum essen. Um mich wohl zu fühlen, gehe ich in den Schatten.

    Allen Verhaltenssteuerungen muss der Wunschwohnraum eine Plattform bieten, damit wir uns rundum wohl fühlen. Der Wunschwohnraum sollte Ruhepausen ermöglichen. Er sollte das kooperative Denken und gelingende zwischenmenschliche Beziehungen ermöglichen. Er sollte für die Nahrungsbeschaffung geeignet sein und in einer Umgebung liegen, in der ich mich wohl fühle.

    Wenn ein in seine Werkzeugherstellung vertiefter Vorfahre sich vor 3,3 Millionen Jahren gestört gefühlt hat, dann könnte er sich unfreundlich gegenüber dem »Störer« verhalten. Nicht immer wird der »Störer« verstehen, warum er angegriffen wird. Die so entstehenden Missverständnisse machen uns krank. Niemand will neben einem Nachbarn wohnen, dessen Absichten und Motive er nicht einschätzen kann. Warum ist der Nachbar so weit weg in der Zukunft? Warum vergisst er die Gegenwart, die gelingende Beziehung?

    Exorphine im Fleisch

    Das Fleisch größerer Tiere (nicht aber das Fleisch von Insekten oder Würmern) enthält Betäubungsmittel, Exorphine genannt. Wir sind nach diesen Exorphinen süchtig. Der Mensch wird mit dem Fleischkonsum über die Sucht nach Exorphinen in seinem Verhalten gesteuert, weil er die Exorphine unbewusst will und sucht. Gut handelt, wer auch Exorphine bedenkt bei der Auswahl eines geeigneten Wohnraumes. Wenn er die Exorphine morgen essen will, dann muss er Milch und Brot geliefert bekommen haben. Nicht mehr nur die gelingenden Beziehungen stehen im Vordergrund. Welche Auswirkungen soll diese Sucht auf den bevorzugten Wohnraum haben? Soll diese Sucht uns überhaupt noch Kriterium sein für den Wohnraum oder können wir nicht auch getrost darauf verzichten?

    0,075 Erste Kleidung

    Vor etwa 75.000 Jahren konnten unsere Vorfahren erste Kleidungen herstellen und tragen. Vermutlich gab es von daher auch schon erste Siedlungen mit mehr als 120 Individuen. Ich kenne keine Belege für diese Vermutung, außer der Logik. Denn wer eine komplizierte Kleidung herstellen kann … , der kann auch ein einfaches Zelt bauen.

    Vor 0,012 Millionen Jahren beginnt der Anbau von Getreide, die Viehhaltung und Sesshaftwerdung

    Bis vor etwa 12.000 Jahren entstanden nachweislich erste Gebäude, von denen heute noch Reste existieren. Ich vermute von daher spätestens vor 12.000 Jahren die ersten Siedlungen, in denen mehr als 120 Menschen lebten. Das ist noch nicht lange her, auf etwa 400 Generationen können wir da zurückblicken, wenn für eine Generation 30 Jahre berechnet werden.

    Wunschwohnraum vor 12.000 Jahren

    Wie lebte es sich dort, in einer Siedlung vor 12.000 Jahren? Der Lärm, der ausgeschiedene Kot, der Urin. Müllabfuhr? Kanalisation? Fließend Wasser aus dem Hahn? Kühlschrank? Es gibt viele Störfaktoren. Wie lange kann es ein Mensch in einer der ersten Städte aushalten bis er das Weite sucht?

    Exorphine auch in Getreide und Milch

    Mit dem Anbau von Getreide und mit der Viehhaltung ermöglicht sich der Mensch noch zwei weitere Exorphine enthaltende Naturstoffe. Das Getreide muss er aufwendig bearbeiten, um es verzehren zu können. Getreidekörner sind zu hart, um sie in größeren Mengen zu verspeisen. Getreide sättigt und betäubt: Getreide- und Milchprodukte können die Suche nach gelingenden zwischenmenschlichen Beziehungen unterbrechen. Dies bedeutet für den Wunschwohnraum, ihn möglichst so zu gestalten, dass der Konsum von diesen Produkten nicht durch die Örtlichkeiten gefördert wird.

    Exorphine beeinflussen unser Verhalten

    Exorphine beeinflussen unser Sozialverhalten, dass ja für unser Glück wichtig ist. Wir sind nach den Exorphinen aus Fleisch, Getreide und Milch süchtig. Wir verhalten uns entsprechend. Wir jagen, bauen Getreide an, halten Vieh.

    Lebensräume, ob auf dem Land oder in der Stadt, wurden bisher so gestaltet, dass sie als Orte genutzt werden konnten, um an Exorphine zu gelangen. Und das alles bei gleichbleibender Sucht nach unseren körpereigenen Belohnungshormonen. Das war bis heute ziemlich verwirrend. Es ist wie in der Geschichte vom Turmbau zu Babel oder wie in dem Spruch von Goethe mit den zwei Seelen.

    Spaltung des Menschen

    Wir sind als Menschen in unserem Herzen, in unserem Verhalten gespalten. Der eine Teil will über Wettkampf und Konkurrenz an Ruhm, Macht, Besitz, Berühmtheit oder an möglichst viele Exorphine und bevorzugt entsprechende Wohnstätten, der andere Teil will über gelingende zwischenmenschliche Beziehungen, also über Liebe, über das Gefühl: »ich mag dich – du magst mich« an körpereigene Belohnungshormone. Diese Spaltung in uns selbst kann bei der Wahl des Wohnraumes zu Widersprüchen führen. Es gibt keinen Wohnraum, der für alle drei Suchtverhaltensweisen (nach Ruhm, nach Exorphinen und nach Liebe) gleichermaßen geeignet wäre.

    Wenn wir uns in unserem Wunschwohnraum wohl fühlen wollen, dann bleibt uns nur die Reue über anerzogene, nachgeahmte Verhaltensweisen, um Berühmtheit, … oder um Exorphine zu suchen. Wer sich wohlfühlen will, muss sich zur Liebe bewusst bekennen.

    Wasseranschluss und Speiseraum

    Wir erhitzen erst seit »kurzer« Zeit unsere Speise. Die weltweit ältesten gesicherten Feuerstellen, die zweifelsfrei durch Menschen angelegt wurden, stammen aus der Wonderwerk-Höhle in Südafrika und sind »erst« etwa 1,7 Millionen Jahre alt. Zu dieser Zeit gingen wir schon seit mindestens 1,6 Millionen Jahren aufrecht auf zwei Beinen.

    Erhitzte Nahrung macht uns fruchtbarer (siehe dazu die Gießener Rohkoststudie). Diese Fruchtbarkeit ist einer der Faktoren für unsere derzeitige Überbevölkerung und lässt uns, weil es nur begrenzten Wohnraum und Ressourcen gibt, zu Konkurrenten werden.

    Sollen wir uns überhaupt weiterhin traditionell ernähren, wie in den letzten 300 Jahren? Oder sollten wir nicht vernünftigerweise unseren Blick weiten und uns bewusst darüber werden, an welche Nahrung wir uns in der Evolution gewöhnt haben?

    Krankheiten, Unzufriedenheiten und Gehbehinderungen einplanen oder vermeiden?

    Seit dem Anbau von Getreide und der ersten Viehhaltung quälen uns Krankheiten, vor allem Infektionen. Am Anfang, vor etwa 10.000 Jahren, sind unsere Vorfahren sehr früh gestorben. Es stellen sich also nicht nur die Fragen: Wo sollen wir wohnen? Wie soll die Wohnung eingerichtet sein? Wie soll die Umgebung aussehen? sondern: Wie wollen wir uns am neuen Wohnort verhalten? Wollen wir gesund bleiben oder sollen wir gleich neben einem Krankenhaus einziehen.

    Ist es nicht dringend notwendig die Nahrung zu überdenken, die Konkurrenz einschlafen zu lassen, weltweit weniger Kinder zu bekommen, Kooperation einzuüben und von Drogen Abstand zu halten, um nicht selbst zu einem unfriedlichen Nachbarn für andere zu werden?

    Die Symptome haben sich verbessert, die Ursachen sind geblieben

    In den letzten 2.000 Jahren entstehen neue Umstände, wie zum Beispiel eine bessere Wohnsituation oder ein verändertes Klima oder eine immer effizienter wirtschaftende Landwirtschaft mit denen sich das Durchschnittsalter wieder erhöht hat. Aber die Kulturkrankheiten und Infektionen sind uns geblieben. Wir erfinden immer wieder neue Gegenmittel. Ein ganzer Wirtschaftszweig ernährt sich von den Krankheiten der Menschen. Ist die Hauptursache nicht unsere Kulturnahrung und der Stress mit unserer unnatürlichen Konkurrenz? Wir haben die Sucht nach den Exorphinen nie hinterfragt.

    Es gibt den sogenannten Bestätigungsfehler. Er behindert uns neue Erkenntnisse anzunehmen. Wir ändern traditionelles Verhalten am besten in der Pubertät.

    Unsere Uneinsichtigkeit bisher mag aber auch daran liegen, weil die Exorphine erst Ende der 1970er Jahre entdeckt wurden.

    Bisher versuchen wir mit allerlei medizinischen Tricks und technisch raffinierten Prothesen die Lebenszeiten zu erhöhen. Das gelingt uns unter Schmerzen der Betroffenen. Doch dieser Zustand ist nicht nur teuer, aufwendig, hinderlich für unsere globalen sonstigen Probleme, dieser Zustand ist eigentlich unerträglich. Wie wichtig ist da unser Problem mit dem Wohnraum?

    Überbevölkerung wird zum globalen Problem

    Die Weltbevölkerung nimmt seit 300 Jahren dramatisch zu. Vor etwa 300 Jahren gab es schon so viele Menschen auf der Erde, wie noch nie: 520 Millionen! Im Mai 2020 leben rund 7.800 Millionen hier auf der Erde. Brauchen wir für 7.800 Millionen Menschen Wohnraum oder sollten wir unsere Wünsche auf die Reduzierung der Weltbevölkerung lenken?

    Weniger Kooperation

    Zu viele Menschen auf einem begrenzten Raum werden zu Konkurrenten. Jeder aber will neben einem netten, hilfsbereiten, kooperativ eingestellten Nachbarn wohnen.

    Wir sind süchtige Lebewesen.

    Sollten wir nicht unsere neuen Suchtstoffe, die Exorphine, uns bewusst werden lassen, die mit dazu beitragen, dass wir uns als Konkurrenten wahrnehmen, weil jeder dem anderen seine Belohnung wegessen kann? Denn jeder will neben einem netten, hilfsbereiten, kooperativ eingestellten Nachbarn wohnen.

    Reue täte uns gut

    Sollten wir uns nicht lieber unsere Sucht nach Berühmtheit, Geld, Macht, Besitz, Drogen und so weiter bewusst werden lassen, die uns zu Konkurrenten werden lässt und diese Sucht bereuen? Denn jeder will neben einem netten, hilfsbereiten, kooperativ eingestellten Nachbarn wohnen.

    Gelingende zwischenmenschliche Beziehungen, Ruhepausen

    Wo will ich leben? Ich will an einem Ort leben, an dem gelingende zwischenmenschliche Beziehungen möglich sind. An diesem Ort soll mein Verhalten nicht durch eine Suche nach Exorphinen, nicht durch eine Suche nach Berühmtheiten, nicht durch Kooperationsverlust und nicht durch Überbevölkerung geprägt sein.

    Ich brauche immer wiederkehrende Ruhepausen, gute Luft, gesunde artgerechte Nahrung und Bewegung. Wo dies möglich ist, dort will ich leben. Unsere Kinder und Jugendlichen wollen das auch.

    Kinder und Jugendliche brauchen weder Lob noch Preise, um gut zu sein. Sie sind es bereits als Kleinkinder. Empathie ist wie ein Muskel, den wir in jungen Jahren trainieren können. Wenn wir als Erwachsene mit Loben und Preisen, die Empathie fördern wollen, machen wir etwas kaputt, weil wir nicht daran glauben wollen, das etwas von Natur aus da ist, bei den Kindern. Man nennt das Korrumpierungseffekt.

    Mein Wunschwohnraum ist mein Wunschschlafraum. Dort finde ich Ruhe. Von dort aus streife ich durch das umliegende vorzugsweise bewaldete Gelände und suche gelingende zwischenmenschliche Beziehungen.
    • user
      PD Dr. Anja Reichert-Schick 05.07.2021 um 09:30
      Sehr geehrter Herr Ahmose,

      vielen Dank für Ihren Kommentar mit Ihren umfangreichen Erläuterungen und den bereichernden Gedanken. Sie bringen weitere interessante Perspektiven ein. Aufgrund des historischen Ansatzes regen Sie nochmal auf eine andere Art und Weise zum Nachdenken an. Vielen Dank dafür.

      Anja Reichert-Schick