Die Regelschule soll sich für behinderte ­Kinder öffnen

Auf einer Tagung in der Evangelischen Akademie Bad Boll standen Konsequenzen der UN-Konvention über Behindertenrechte zur Debatte

<p><em>Bildungspolitische Debatte in der Akademie: Die CDU-Abgeorndnete Sabine Kurtz (li.) will schulpolitische Veränderungen von untern aufbauen.</em><br /><br /><h1>Zusatzinfos</h1>Abdruck honorarfrei. Bei Veröffentlichung Belegexemplar, bzw. Hinweis auf den Sendetermin erbeten!<br /><br />Dieser Text hat 7424 Anschläge (ohne Überschriften und Absätze); das entspricht etwa 185 Zeilen zu je 40 Anschlägen.</p>

Bad Boll / Kreis Göppingen - Ein Dokument der Vereinten Nationen bringt Bewegung in die baden-württembergische Bildungspolitik. Seit Jahresbeginn gilt auch hierzulande die UN-Behindertenrechtskonvention. In Art. 24 wird darin ein sog. inklusives Bildungssystem gefordert, gemeint ist damit u. a. gemeinsamer Unterricht für Kinder mit und ohne Behinderung an allgemeinbildenden Schulen. Welche Umsetzungsschritte dafür notwendig sind, erörterten am Montag (29.06.09) Pädagogen, betroffene Eltern und Bildungspolitiker in der Evangelischen Akademie Bad Boll.
Lange sei das gegliederte Schulsystem in der baden-württembergischen Bildungslandschaft wie eine Bastion verteidigt worden, sagte die Grünen-Abgeordnete Renate Rastätter auf der Tagung in Bad Boll. Doch mit der UN-Konvention haben sich ihrer Auffassung nach nun die Vorgaben verändert. Sie sieht gute Chancen, jetzt ein Wahlrecht der Eltern in der Entscheidung über Regel- oder Sonderschule durchzusetzen und damit der »Inklusion« die Schultüren zu öffnen.
Es sei jetzt in der Verantwortung der Bildungspolitik, dafür die gesetzlichen und praktischen Voraussetzungen zu schaffen. Besonders wichtig ist Renate Rastätter aber ein Blickwechsel: Es dürfe nicht mehr darum gehen, die »Integrationsfähigkeit« eines behinderten Kindes in den Mittelpunkt zu stellen, sondern die Schule so auszugestalten, dass sie allen Kindern in ihren Eigenarten und ihrem Förderbedarf gerecht werden kann.
Auch ihr Ulrich Noll, Vorsitzender der FDP-Fraktion im baden-württembergischen Landtag, machte sich für einen Kurswechsel stark. Es sei eine faszinierende Idee, in der Schule von Anfang an alle mitzunehmen, anstatt Leistungsschwächere auszusondern, sagte er in Bad Boll. Viele Schulen und Lehrkräfte seien bereit, diesen Weg zu gehen, wenn man sie nur ließe. Hier sei bislang eher gebremst als ermutigt worden. Deswegen forderte er: »Gebt den Schulen mehr Autonomie!«
Dass mit der Inklusionsforderung durch die UN-Konvention auf die Schulen strukturelle Änderungen zukommen, ist auch dem SPD-Landtagsabgeordnete Norbert Zeller bewusst. Mit seiner Fraktion wolle er sich dafür einsetzen, »dass man sich dieser Herausforderung richtig stellt, und nicht nur ein bisschen«. Schon jetzt werde über Grenzen diskutiert, etwa einen Finanzierungsvorbehalt bei der Umsetzung der Maßnahmen. Das sei aber, sagte Zeller in Bad Boll, durch die Konvention nicht gedeckt und auch nicht in seinem Sinne.
Deutlich zurückhaltender äußerte sich die CDU Abgeordnete Sabine Kurtz auf der Tagung. Eine »absolute Freiheit« beim Elternwahlrecht könne sie sich nicht vorstellen. Bei einer Umstellung des Schulwesens müsse darauf geachtet werden, dass die Kinder nicht schlechter gestellt werden und vor allem die sonderpädagogische Fachkompetenz erhalten bleibt. »Wir müssen die Veränderungen von unten aufbauen«, sagte Kurtz und meinte damit sowohl einen eher langfristig angelegten Stimmungswandel in der Gesellschaft gegenüber Menschen mit Behinderung als auch Anpassungen in der Aus- und Weiterbildung der Lehrkräfte.
Mit konkreten Schritten jetzt zu beginnen, forderten dagegen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Akademietagung. Vor allem müsse das Schulgesetz für die allgemein- und berufsbildenden Schulen in einer Weise geändert werden, dass das Leitbild der Inklusion, wie es in der UN-Konvention gefordert werde, in vollem Umfang zur Geltung kommt.
Konkret heißt dies ihrer Ansicht nach: Eltern behinderter Kinder sollen nach einer unabhängigen Beratung selbst entscheiden können, ob ihr Kind auf eine Regel- oder Sonderschule geht. Kindern mit einer Behinderung muss der Zugang zu allgemeinbildenden Schulen garantiert werden. Dies hat zur Konsequenz, dass auch ein sog. zieldifferenzierter Unterricht und eine individuelle Unterstützung aller Kinder ermöglicht werden soll.
Deutliche Kritik wurde auf der Tagung an den Testverfahren geübt, die nach gängiger Praxis einen Schüler dem Sonderschulsystem zuordnen. Statt den Blick auf Mängel und Unzulänglichkeiten eines Menschen zu richten, wünschten sich die Teilnehmer, dass künftig nach Möglichkeiten gesucht wird, Kompetenzen zu fördern und individuell zu unterstützen.
Auch in der Ausbildung der Lehrkräfte forderten die Tagungsteilnehmer eine klare Ausrichtung auf das Leitbild der Inklusion. Schon jetzt müssten an den Schulen tätige Lehrer Weiterbildungsmöglichkeiten bekommen. Im Grundstudium sollten Basismodule angeboten werden und ein Masterstudiengang mit Schwerpunkt Inklusion entwickelt werden.
Der von den Tagungsteilnehmern aufgestellte Forderungskatalog bezog sich nicht nur auf den Bildungsbereich. Um Menschen mit einer Behinderung Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und eine sinnerfüllte Existenz zu ermöglichen, müsse auch in Behörden und bei Arbeitgebern ein Sinneswandel stattfinden. So sollten Vorkehrungen und Ressourcen, die ein Mensch mit Behinderung benötige, selbstverständlich zur Verfügung gestellt werden und eine Beteiligung am Arbeitsleben nicht primär unter betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten beurteilt werden.
Wichtig war dem Tagungsteilnehmern, dass das Leitbild der Inklusion als positives Ziel verstanden wird. Mit der UN-Konvention werde der Bildungspolitik und der Gesellschaft keine Bürde auferlegt, sondern die Chance gegeben, die Schulentwicklung am individuellen Förderbedarf der Kinder auszurichten. Außerdem begünstige es einen Prozess, der Vielfalt und Teilhabe als gesellschaftlich geschätzte Werte erlebbar mache. (-uw)

Integration oder Inklusion?
Die UN-Vollversammlung hat am 13. Dezember 2006 die Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen beschlossen. Nach der Ratifizierung durch Bundestag und Bundesrat hat diese Konvention seit Jahresbeginn auch in Deutschland Gültigkeit. In Artikel 24 verpflichten sich die Vertragsstaaten, Menschen mit Behinderungen das Recht auf Bildung »ohne Diskriminierung und auf der Grundlage der Chancengleichheit« zu gewährleisten.
Ausdrücklich ist im englischen Originaltext der Konvention von »inclusiv education« die Rede. In der amtlichen deutschen Übersetzung ist daraus ein »integratives Bildungssystem« geworden. Kritiker vermuteten darin einen Übersetzungstrick der Bundesregierung, um die in Bildungsfragen erforderliche Zustimmung der Kultusministerkonferenz und der Bundesländer zum Ratifizierungsverfahren zu bekommen.
Tatsächlich stellt der Inklusions-Ansatz die bestehende Gliederung des Schulsystems in Regel- und Sonderschule radikal in Frage. Behinderten-Vertreter betonen, dass die integrative Pädagogik eine Eingliederung »aussortierter« Kinder anstrebt, der Inklusionsansatz sich aber gegen das »Aussortieren« selbst richtet. In der Konvention heißt es daher auch explizit, dass »Menschen mit Behinderungen innerhalb des allgemeinen Bildungssystems« die notwendige Unterstützung erhalten sollen, um ihre erfolgreiche Bildung zu erleichtern.
Völkerechtlich verbindlich ist der englische Wortlaut der Konvention. Dementsprechend stehen die Kultusministerien unter Druck. Das baden-württembergische Kultusministerium hat inzwischen einen Expertenrat »Sonderpädagogische Förderung« einberufen. Dieses Gremium soll Vorschläge erarbeiten, wie ein weitreichendes Elternrecht bei der Entscheidung über Regel- oder Sonderschule verwirklicht werden kann. Geplant ist zum Schuljahr 2010/11 die erforderlichen Änderungen des Schulgesetzes auf den Weg zu bringen. (-uw)

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