Armenische Identität 1915-2015

Der Filmemacher Fatim Akin und der Autor Doğan Akhanlı (© E. Broich).

Am 24. April 2015 jährt sich der Beginn der Deportationen der armenischen Bevölkerung im damaligen Osmanischen Reich zum hundertsten Mal. An diesem Tag wurden in Konstantinopel armenische Intellektuelle verhaftet, und im weiteren Verlauf des Jahres in Anatolien ganze Dörfer und Stadtviertel geleert. Dieser erste Genozid des 20. Jahrhunderts forderte – je nach Schätzungen – zwischen 300.000 und 1,5 Millionen Menschenleben. Der Genozid-Gedenktag am 24. April gilt als einer der wichtigsten nationalen Feiertage der Republik Armenien und des armenischen Volkes. Das war Anlass für die Evangelische Akademie Bad Boll, am vergangenen Wochenende dazu in einer Tagung zu fragen: Wie prägt diese Vergangenheit die Gegenwart? Wie wird sie gedeutet, auch in der Genozidwissenschaft? Wie definiert sich armenische Identität in Armenien, aber auch darüber hinaus in der internationalen Diaspora und in Deutschland?

„Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung", so hat es Richard von Weizäcker 1985 formuliert, ein jüdisches Sprichwort zitierend. Doch Erinnerung und Gedenken können nur eine Seite sein; Gegenwarts- und Zukunftsgestaltung bilden die andere. Deutlich wurde im ersten Vortrag von Sybille Thelen, Landeszentrale für politische Bildung in Stuttgart, dass es in der Türkei, vor allem seit dem Mord an Hrant Dink und Fetihye Cetins „Anneannem“ („Meine Großmutter“), mehr Äußerungen zum Thema gibt. Auch die deutsche Debatte ist inzwischen bereichert und vor allem im Kontext des Erinnerns an den Ersten Weltkrieg präsent. Deutlich wurde aber auch, dass ohne eine Lösung der Kurdenfrage auch in der Diskussion um die Geschichte der Armenier in der Türkei kein Fortschritt möglich sein wird.

Wie wird ein Mensch zu einem Täter? Roy Knocke vom Lepsiushaus in Potsdam beschäftigte sich vor allem mit der „genozidalen Erinnerungslücke“ - mit der Deutungslücke zwischen staatlichen Entscheidungen und kollektiver Gewaltausübung einer dann als genozidal zu bezeichnenden Gesellschaft. Dabei sind vor allem in der kollektiven Biographienforschung Antworten zu finden, wie aus einer generationellen Erfahrung Weltanschauungen und schließlich konkrete Handlungen entstehen. Dazu gab er eindrückliche Beispiele.

Der im Exil lebende Schriftsteller und politische Autor, Doğan Akhanlı, erweiterte die Diskussion um sein monologisches Stück „Annes Schweigen“, in dem die wiederentdeckte armenische Familiengeschichte einer jungen Türkin thematisiert wird. In der Diskussion im Anschluss wurden die Herausforderungen für die deutsche historisch-politische Bildungspolitik angesprochen: Wie kann ein Erinnern aussehen, das auch jene einschließt, die mit anderen Narrativen aufwachsen? Das Dogma der Einzigartigkeit des Holocaust behindere die Freiheit, Parallelen aufzuzeigen und die Gleichzeitigkeit der Ereignisse offenzulegen, so Akhanlı.  

In der Diskussion zur armenischen Identität am nächsten Vormittag berichteten Dr. Diradur Sardaryan und Prof. Hacik Gazer von ihren jeweiligen Erfahrungen. Gazer zitierte aus Franz Werfels „Die 40 Tage des Musa Dagh“: „Es ist unmöglich, Armenier zu sein“. Die Zerrissenheit in der armenischen Identität, so zeigte er eindrücklich, ist literarisch sei langer Zeit ein Thema. Und auch die Situation der weltweiten Diaspora mit ihren Gemeinden, die wie eine Oase im Ozean seien, zeigte er auf. Sardaryan ergänzte dies mit den Schilderungen der aktuellen Themen in seiner Gemeinde, wie derzeit die steigenden Flüchtlingszahlen aus Syrien und dem Irak. Auch hier sind die Gemeinde eine Oase, eine erste Anlaufstelle. Gazer sagte: Das Erinnern wird hier zu einer umfassenden Aufgabe; würde man nicht mehr Erinnern, seien die Vorfahren gleichsam wie noch einmal gestorben.  

Die Abschlussdiskussion schließlich brachte Doğan Akhanlı und Cem Özdemir miteinander ins Gespräch. Özdemir machte deutlich: “Es ist an der Zeit, dass Deutschland seine Rolle in den Ereignissen von 1915 aufzeigt und deutliche Worte findet”. Er setzt sich dafür ein, dass auch die Türkei den Völkermord als solchen anerkennt. Doch sei dies nicht alles; wichtig für die heutige Situation sei es vor allem, die Grenzen zwischen Armenien und der Türkei zu öffnen. So könnte der zunehmende russische Einfluss gemindert werden, Armenien auch wirtschaftlich gestärkt werden und die zivilgesellschaftlichen Akteure im Land unterstützt werden. Doğan Akhanlı betonte in diesem Zusammenhang noch einmal die Notwendigkeit eines “Erinnerungsaufstandes”; es müsste ein gemeinsamer, transnationaler Erinnerungsraum geschaffen werden, um eine gute Zukunft gestalten zu können. Er regte an, über eine Art muslimischer Aktion Sühnezeichen nachzudenken. 

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