„Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei“

Ein Theologischer Impuls zum gekippten Sterbehilfe-Gesetz

Wir stehen in der Karwoche und gehen zugleich auf Ostern zu. Einem Drama gleich erleben wir in diesen Tagen die beiden Pole, die unser Leben bestimmen: Trauer und Freude, Verzweiflung und Hoffnung, Schuld und Sühne, Schatten und Licht für all das und noch viel mehr stehen symbolisch Kreuz und Auferstehung. Die Verletzlichkeit des Lebens wird uns vor Augen geführt genauso wie der Horizont der Hoffnung, ohne den wir nicht sein könnten. Und mitten in allem die Frage, was unser Leben eigentlich ausmacht.

Mal alleine sein, ganz für sich – Die Vorstellung einer Robinsonade kann reizvoll sein. Manchmal haben wir einfach den Wunsch, niemanden um uns zu haben, sich ganz zurückziehen zu dürfen.

Die Vorstellung jedoch immer allein und einsam zu sein, erschreckt. Wie sehr wir Kontakte und Begegnungen brauchen, merken wir in der derzeit verordneten Häuslichkeit im Rahmen der Corona-Pandemie. Auf Dauer ohne Außenkontakte zu leben macht krank, wie Studien zur Situation Alleinlebender nachgewiesen haben. Gut also, dass wir immerhin noch an die frische Luft dürfen und uns per Telefon, Skype oder über den Zaun weiterhin mit anderen unterhalten können.

Robinson war froh, dass Freitag hinzukam, und Adam war froh an Eva: „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein ist.“ (Gen 2, 18)

In der Bibel wird der Mensch als Paar geschaffen, als Mann und Frau zugleich. In der klassischen Philosophie wird der Mensch als ein zoon politikon und animal relationale bezeichnet. Also als ein auf Beziehung hin angelegtes Wesen. Autonomie war in der Antike darum auch kein Individualbegriff. Es meinte die Freiheit als Gemeinschaft, die Freiheit als Polis von der Willkür unterdrückender Herrscher.

Autonomie braucht das Kollektiv. Sie gelingt in der Balance von Eigensinn und Gemeinsinn. Personalität und Solidarität sind im Verständnis der Soziallehre zwei sich ergänzende Antipode. Autonomie gibt es also nur in Beziehung.

Dieser Überzeugung entspricht unser Werden. Im Gegensatz zu anderen Kreaturen sind wir Menschen in unseren ersten Lebenstagen und Monaten nicht aus uns selbst überlebensfähig. Wir sind keine Steppentiere, die, kaum geboren, aufstehen und mit der großen Herde weiterziehen. Wir sind Säuglinge und in besonderer Weise schutzbedürftig. Wir werden berührt, getröstet und gestillt. Wir sind angewiesen auf andere, leben aus deren Hand, aus deren Zuwendung, aus deren Zuspruch. Autonom und autark sind wir im Sinne von Persönlichkeitsentwicklung, wenn wir auf eigenen Füßen stehen, eigene Wege gehen, uns selbst ernähren und besorgen können. Aufs Ganze gesehen aber ist unsere Selbstbestimmung nicht ohne Rahmen, haben wir keine absolute, sondern höchstens eine relationale Autonomie.

Was heißt das im Blick auf unseren Tod?

Ende Februar hat nach fast fünfjähriger Wartezeit das Bundesverfassungsgericht über die Verfassungskonformität des § 217 StGB entscheiden und das Verbot geschäftsmäßiger Suizid-Beihilfe abgelehnt. Die Karlsruher Verfassungsrichter_innen argumentieren mit einem konsequenten Autonomiebegriff: Das allgemeine Persönlichkeitsrecht schließe ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben ein. Wobei dieses Recht wiederum die Freiheit einschließe, sich das Leben zu nehmen und hierbei auf die freiwillige Hilfe Dritter zurückzugreifen. Darum sei „sicherzustellen, dass dem Recht des einzelnen, sein Leben selbstbestimmt zu beenden, hinreichend Raum zur Entfaltung und Umsetzung verbleibt“ (BVerfG Pressemitteilung Nr. 12/2020 vom 26.Februar 2020).

Der Monismus des Selbstbestimmungsrechts macht nachdenklich. Im Urteil wird eine ganz eigene Konnotation des Autonomiebegriffs konsequent zu Ende buchstabiert. Dagegen ist juristisch nichts einzuwenden. Das Ergebnis aber ist ethisch und anthropologisch zu hinterfragen. Vor allem, wenn aus dem strikten Grundsatz der Selbstbestimmung abgeleitet wird, dass das Recht auf Sterben nicht auf Situationen wie schwere oder unheilbare Krankheitszustände zu beschränken sei. Das Recht auf selbstbestimmtes Sterben besteht in jeder Lebensphase eines Menschen, heißt es. Man stelle sich an dieser Stelle junge Menschen vor, die sich dem Leben, dem Studium oder ihren depressiven Verstimmungen nicht gewachsen fühlen und einen Todeswunsch äußern. Unter Wahrung gewisser Sorgfaltspflichten, die vom Gesetzgeber noch zu entwerfen und beschließen wären, könnte man ihnen demzufolge das Grundrecht auf selbstbestimmtes Sterben nicht verweigern. „Wir mögen seinen Beschluss bedauern, wir dürfen alles versuchen, ihn umzustimmen, wir müssen seine freie Entscheidung aber in letzter Konsequenz akzeptieren“ (so Präsident Andreas Voßkuhle bei der Urteilsverkündung). Mehr noch: Wir hätten nach Auffassung des Gerichts sogar die Pflicht, für eine angemessene Möglichkeit des suizidalen Sterbens zu sorgen. 

Dem Urteil des BVerfG nach geht es also nicht mehr nur um eine Regelung eines ärztlich assistierten Suizids als ultima ratio in aussichtslosen Krankheits-Situationen, die man ethisch begleiten, abwägen und gegebenenfalls verantworten könnte. Es geht in dieser vom BVerfG bewusst gewählten Weite um Suizid als Option. Damit verhallen alle Appelle, Sterbehilfe nicht als Normalfall zuzulassen. Stattdessen kommt es zu einer Absolut-Setzung individueller Autonomie. „Die Entscheidung des Einzelnen… bedarf keiner weiteren Begründung oder Rechtfertigung, sondern ist Ausgangspunkt als Akt autonomer Selbstbestimmung von Staat und Gesellschaft zu respektieren (BVerfG Pressemitteilung Nr. 12/2020 vom 26.Februar 2020).

Wie gesagt, juristisch mag es korrekt sein, aber macht das unser Leben aus, dass wir alles selbst bestimmen und entscheiden können?

Es ist meines Erachtens aber problematisch, die Selbsttötung zu einem Akt der Selbstbestimmung zu erklären und mit Bezug auf die Würde zu rechtfertigen, ohne die damit verbundenen Grenzfragen und Konfliktlinien zu benennen. Das Paradigma der absoluten Autonomie isoliert letztlich die Person aus ihrem sozialen Sein. Der Mensch als Beziehungswesen, die angesprochene Relationalität von Autonomie hat an dieser Stelle keinen Platz mehr.

Es bleibt abzuwarten, welche kommenden Urteile dieser ausschließlichen Interpretation von Selbstbestimmung folgen werden. Und es bleibt kritisch zu fragen, ob das zutreffend und verantwortlich die Fundamentalnorm unseres Grundgesetztes von der Unantastbarkeit und Wahrung der Menschenwürde wiedergibt.

„Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei“.

Theologisch betrachtet gibt es Selbstbestimmung nicht absolut, sondern nur dynamisch, eingebettet in Beziehungsgeschehen und rückgebunden an die Erinnerung, dass es uns nur gibt, weil andere für uns da sind und waren. Denn das Wesentliche verdanken wir uns nicht selbst. Es wird uns geschenkt. Das Leben, die Liebe, die Sprache.

Nichts anderes bedenken und feiern wir in der Karwoche und an Ostern.

Der Theologe Dr. Dietmar Merz ist seit 2014 Studienleiter für den Themenbereich „Kultur, Bildung, Religion“ an der Evangelischen Akademie Bad Boll. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Medizinethik und Gesundheitspolitik.