„Friedensarbeit ist eine hohe Kunst“

Ein Bericht: Wie Kirchen in Versöhnungsprozessen mitwirken

Religionen können Konflikte und Kriege befeuern. Wie sehr die Religionsgemeinschaften andrerseits zur Versöhnung beitragen können, war das Thema einer Tagung der Evangelischen Akademie Bad Boll und von Pro Ökumene – Initiative in Württemberg. Sie wurde von Brot für die Welt und vom Katholischen Fonds – Kooperation eine Welt unterstützt.

Im Jahr 1978 stand der Krieg zwischen Argentinien und Chile unmittelbar bevor, die Invasion war beschlossen. Nur durch schlechtes Wetter wurde sie aufgehalten, der Vatikan nutzte dies für einen Vermittlungsversuch in letzter Minute. Das Wort des Papstes galt etwas in zwei katholisch geprägten Ländern. Die erfolgreiche kirchliche Vermittlung zog sich über mehrere Jahre hin und diente mit großer Beharrlichkeit dem Frieden.
„Versöhnung ist ein Langzeitprozess“, betonte Martin Leiner, Professor an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena und Gründer des „Jena Center for Reconciliation Studies“. In diesem Prozess gebe es Aufgaben, die sich abschließen ließen, etwa eine historische Untersuchung. Zugleich gebe es Aufgaben, die niemals abgeschlossen seien, deren Ende im Sinne von „jetzt haben wir es geschafft und sind versöhnt“ niemals endgültig erreicht sei.
Versöhnung, so Leiner, beginne nicht erst nach einem Gewaltkonflikt, sondern mittendrin: „Pax Christi zur Versöhnung zwischen Franzosen und Deutschen wurde nicht 1946 gegründet, sondern 1944.“ Ein Waffenstillstand sei nicht zwingend für den Beginn eines Versöhnungsprozesses, der zu einem versöhnten Frieden führen soll. Eine Versöhnung brauche aber die Anerkennung und Teilhabe möglichst aller in einem gewaltfreien Austausch.

14 Praktiken

Leiner beschrieb 14 Praktiken der Versöhnung. Sie reichen von rechtlichen Regelungen und der Schaffung einer gemeinsamen Sicherheitsarchitektur über öffentliche Entschuldigungen und symbolische Akte und Reparationen und anderen Versuchen der Wiedergutmachung bis zu Städtepartnerschaften, Historikerkommissionen und Gedenkstätten, medizinischer und psychologischer Hilfe und der Veränderung von Schulbüchern, um das Bild des ehemaligen Gegners zu humanisieren.
Zur Versöhnung gehöre die Versöhnung mit sich selbst, verbunden mit der Frage: „Wie stehe ich denn da, wenn ich….?“ Zu ihr gehöre die Versöhnung mit der eigenen Gruppe, der menschlichen und natürlichen Umwelt und letztlich auch mit Gott. Bei der Versöhnung mit dem Feind gebe es Täter und Opfer ersten, zweiten und dritten Grades, etwa die Mörder und diejenigen, die es ermöglicht haben. Opfer könnten zu Tätern werden und umgekehrt.
Hilfreich für einen Versöhnungsprozess sei, wenn möglichst viele Akteure ihn wollten, wenn es möglichst wenige gebe, die ihn torpedierten, wenn eine bestimmte Reihenfolge eingehalten werde, etwa eine Entwaffnung vor demokratischen Wahlen, und wenn es finanzielle Mittel für Langzeitprozesse gebe.

Neue Akteure

Teils tragen Gruppen zur Versöhnung bei, die neu zusammenfinden, so wie die „Samstagsmütter“, die in Istanbul die Bilder von Verschwundenen gezeigt haben. Opfer können zu wirtschaftlichen Akteuren werden und die Entwicklung voranbringen. Versöhnung und Entwicklung seien Partner. In Ruanda habe sich vieles positiv verändert, was ohne die Versöhnungsarbeit nicht möglich gewesen wäre – bis hin zum Verbot von Plastiktüten und der Pflicht für Kinder, Schuhe zu tragen. Bis zum Jahr 2013 wurden über 144.000 Milchkühe verteilt, die durchschnittliche Lebenserwartung stieg von gut 40 auf rund 65 Jahre.
Wie schwer es ist, mitten im Streit mit Versöhnung zu beginnen, hat die Bad Boller Studienleiterin Carola Hausotter bei der Vorbereitung von Veranstaltungen zum Ukraine-Krieg erlebt. „Es ist so gut wie unmöglich, Vertreter*innen aus den kriegführenden Ländern in eine Veranstaltung einzubinden“. Leiner sieht hingegen „viele Gründe, dass Russland und die Ukraine zusammenarbeiten“. 
Das Sicherheitsbedürfnis von Staaten müsse ernstgenommen werden, sagte er, doch erschwerten Sicherheitskonzepte, die ganz auf Kontrollen und Mauern bauen, Versöhnungsprozesse. Statt Sicherheit und Frieden zu schaffen, könnten bewaffnete Sicherheitskräfte selbst zum neuen Sicherheitsrisiko werden.

Positive Beispiele

Markus Weingardt von der Stiftung Weltethos kennt viele Beispiele, in denen Kirchen und religiöse Gruppen Versöhnung gefördert haben. Im Bürgerkrieg in Mosambik gelang es der Gemeinschaft Sant’Egidio, einen Friedensvertrag zu vermitteln. Die Verhandlungen dauerten zweieinhalb Jahre, während denen der Krieg weiterging. Auf den Philippinen führte der Einsatz religiös geprägter Menschen für den Frieden im Jahr 1986 zum Sturz des Diktators Marcos. In El Salvador wirkte Oscar Romero als mutiger Bischof, im Irak verurteilte Großajatollah Ali as-Sistani in einem religiösen Rechtsgutachten (Fatwa) die Gewalt. In Bosnien-Herzegowina legte eine interreligiöse Initiative einen Gesetzentwurf zum schwierigen Verhältnis zwischen Religion und Staat vor, der dann im Parlament verabschiedet wurde – das bedeutete ein Pulverfass weniger. In Afghanistan waren muslimische Akteure aus Indonesien zeitweise stark friedensstiftend aktiv. Weingardt erinnerte auch an die Rolle der Kirchen in der DDR.

Kein Schema F

Für eine Konfliktbearbeitung gebe es kein Schema F, aber es gebe Gemeinsamkeiten. Nötig sei eine Kenntnis der Konflikte in der Breite und Tiefe. „Friedensarbeit ist eine hohe Kunst, doch das kann man lernen.“ Vermittler müssten glaubwürdig sein. „Sie dürfen beispielsweise nicht in einem Konflikt Gewalt verurteilen, aber im anderen Konflikt dazu schweigen. Das ist nicht glaubwürdig.“ Sie dürften auch nicht selbst in ungerechte Strukturen verwickelt sein. Glaubwürdigkeit müsse aber nicht zwingend Neutralität bedeuten: „Kirchen und andere Religionsgemeinschaften sind oftmals Opfer in einem Konflikt.“ Ein Vermittler brauche außerdem Verbundenheit zu den Menschen im Konflikt: „Er muss verstanden haben, was seine Vorschläge für die Menschen bedeuten.“ Der Schlüssel zum Erfolg ist jedoch Vertrauen. Und die Analyse zahlreicher Fallstudien zeigt, dass religiöse Akteure oft einen Vertrauensvorschuss genießen, über ethnische oder religiöse Grenzen hinweg. Dieser Vertrauensbonus öffne Türen und eröffne Chancen in Friedensprozessen. Das liegt auch darin begründet, dass religiöse Friedensakteure als uneigennützige und ungefährliche Vermittler gelten, ohne wirtschaftliche und militärische Mittel im Hintergrund. „Sie können nur überzeugen, durch Wort und Tat; diese Schwäche ist ihre Stärke.“
Bei einem Vermittler müssten fachliche Eignung und die Akzeptanz seitens der Konfliktparteien zusammenkommen, unterstrich Weingardt. Daran müssen Religionsgemeinschaften arbeiten. Sie müssen ihre Friedenskompetenzen erkennen und entwickeln. Denn wer Kompetenzen für den Frieden hat, hat auch die Verantwortung, sie einzubringen, so Weingardt. Klar sei aber auch: Friedensarbeit ist weder bequem noch ungefährlich. „Sie erfordert viel Mut und kann auch ins Gefängnis führen – oder das Leben kosten.“

Versöhnungsarbeit in Sri Lanka, Kolumbien und Ruanda

In Arbeitsgruppen mit Expert*innen aus den jeweiligen Ländern wurden die Konflikte in Sri Lanka, Kolumbien und Ruanda besprochen. In Kolumbien gibt es auch innerhalb der Kirchen unterschiedliche Meinungen zum Konflikt. Die Mennoniten setzten sich für das Recht auf Kriegsdienstverweigerung und zivile Alternativen ein, 2017 wurde dieses Recht in Kolumbien als Gesetz verabschiedet.
In Ruanda leben Opfer und Täter nach dem Völkermord Tür an Tür, sie konnten und können dem Problem der Versöhnung nicht entfliehen. Ein Problem, so Maximilian Schell von der Ruhr-Universität Bochum, sei die größtenteils politisch apathische und autoritätshörige Theologie der dortigen Kirchen gewesen. Ein Fundament des Wiederaufbaus sei das Schuldbekenntnis der Presbyterianischen Kirche aus dem Jahr 1996 geworden. Ein weiterer kirchlicher Beitrag zur Entwicklung: 60 Prozent der Schulen in Ruanda seien in kirchlicher Trägerschaft. Ein Abschlussbericht einer internationalen Konferenz unter kirchlicher Beteiligung aus dem Jahr 2014 formuliert eine gute Erkenntnis im Verhältnis zum Staat: „Kirche sollte nicht vor der Politik zurückschrecken, sich aber auch nicht von ihr vereinnahmen lassen. Sie sollte eine vernünftige und kritische Distanz zum Staat einnehmen.“

Pilgerwege und Landrechte

Ein Schlussplenum brachte weitere Aspekte des Themas hervor. Manchmal braucht Diplomatie strenge Verschwiegenheit, jede Öffentlichkeit würde alle Versuche torpedieren. Es kann ratsam sein, Versöhnungsgespräche mit Menschen jenseits der ersten Reihe zu beginnen. Es kann helfen, auch auf Geschichten zu hören, die von den Medien nicht transportiert werden. Versöhnung ist wie ein Mosaik, das viele verschiedene Beiträge braucht, niemand kann und muss alles allein tun. Die aktuell in den Kirchen sehr beliebten Pilgerwege könnten mit internationalen Friedensprozessen kombiniert werden. Teils können Kirchen helfen, Landrechte und das Recht auf Nahrung juristisch durchzusetzen, wenn sie sich strategisch für Menschenrechte einsetzen.
Und wenn alles menschliche Mühen nichts nutzt? Schell ermunterte die Kirchen, in Konflikten für das Leid in Klage und Gebet eine Sprache zu finden. Das könne keine NGO so tun. „Wir sind nicht allein in Versöhnungsprozessen. Wir bitten, dass auch Gott versöhnt.“

Von Peter Dietrich, Freier Journalist 

Zur Tagung: Kirche und Konflikte 

Fotostrecke: © Peter Dietrich, Freier Journalist

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